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Das Verbreiten von mitgefilmter Gewalt hat stark zugenommen.

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In vielen Familien gehört physische Gewalt noch immer dazu, gleichzeitig kommen neue Formen der Gewalt hinzu, etwa das Mitfilmen von Gewalt und das anschließende Weiterverbreiten. Der Pädagoge Philipp Leeb versucht in Workshops des Vereins Poika mit Burschen über ihre Gewalterfahrungen zu sprechen – und hört noch immer Legitimierung von Gewalt.

STANDARD: Sprechen Sie in Ihren Workshops auch über geschlechtsspezifische Gewalt?

Leeb: Grundsätzlich schon, aber wenn wir in Volksschulen sind, haben wir natürlich ganz andere Zugänge als bei Älteren. Aber die Kinder erzählen selbst von Gewalterfahrungen. Das heißt, es ist schon so, dass Jugendliche von sich aus über Gewalt in den sozialen Medien sprechen, über eigene Gewalterfahrungen, oder sie machen das eigene gewaltaffine Verhalten sichtbar.

STANDARD: Welche Rolle spielen soziale Medien bei diesem Verhalten?

Leeb: Vor 20 Jahren hat man sich über Prügelvideos noch aufgeregt, jetzt ist das State of the Art. Das Mitfilmen von Gewalt ist deutlich angestiegen – das sprechen wir natürlich an. Auch häusliche Gewalt ist immer wieder Thema, und manche der Jugendlichen ethnisieren das. Wenn man zum Beispiel serbische Jugendliche fragt, ob das ein Erziehungsmittel ist, sagen manche: bei uns schon. Wenn man sie darauf aufmerksam macht, dass das auch in Serbien verboten ist, sagen sie, das ist wurscht, in ihrer Familie ist das so.

Grundsätzlich ist es aber keine schichtspezifische oder ethnische Sache, sondern Gewalt durchzieht die Lebenswelten vieler jungen Burschen. Auch durch diverse Serien oder Spiele, in denen unterschiedliche Formen von Gewalt stattfinden, beispielsweise Mangaserien wie "Yu-Gi-Oh" für die Jüngeren und "Games of Thrones" für ältere Jugendliche. Das konsumieren sie ständig, auch über Spiele wie etwa "Fortnite".

STANDARD: Bringen heute Spiele oder Serien Gewalt zu den Kindern? Auch im Vergleich zu früher, als viel stärker etwa der Vater als Figur dargestellt wurde, die schlagen darf?

Leeb: Ich würde nicht sagen, dass die eine Gewalt von der anderen abgelöst wird. Ich habe auch immer wieder Jungs, die sehr wohl erzählen, dass sie ihr Vater schlägt, wenn sie zum Beispiel eine schlechte Note haben.

Wir lassen sie Fallbeispiele vorlesen und lassen sie dann einschätzen, ob etwas Gewalt ist, normal ist oder keine Gewalt. Da sehen wir oft, dass sie das legitimieren. Sie sagen, natürlich ist es nicht in Ordnung, aber im Endeffekt haben sie es "verdient". So wird Gewalt als Erziehungsmittel tradiert. Und Gewalt in der Erziehung ist in Österreich einfach noch immer ein weitverbreitetes Mittel.

STANDARD: Gibt es Burschen, die eher in gewalttätiges Verhalten kippen als andere?

Leeb: Vor 20 Jahren wurden immer wieder Studien zitiert, wonach jene Gewalt weitergeben, die selbst Gewalt erlebt haben. Ich finde das inzwischen etwas zu kurz gegriffen, denn wenn man sich etwa mit der Maskulinistenszene auseinandersetzt, wird klar, dass die nicht alle Gewalterfahrungen haben – sondern sie trainieren, erlernen Gewalt. Es geht auch nicht nur um körperliche Gewalt, sondern psychische Gewalt. Protagonisten der sogenannte Pick-up-Szene wenden psychische Gewalt an, um eine Frau zu vergewaltigen, das sind neue Formen von Gewalt. Sicher ist früher auch viel passiert, heute wird es sichtbarer, und wir sehen das Ausmaß deutlicher, was Gewalt anrichten kann. Deshalb kann man Gewalt nicht auf eine bestimmte Gruppe von Burschen einschränken. Manche sagen von sich aus, dass sie nie Gewalt anwenden würden – wenn Burschen Gewalterfahrungen haben, wollen manche ganz bewusst diese Gewalttradition unterbrechen.

Philipp Leeb ist Pädagoge sowie Gründer und Obmann von Poika, einem Verein zur Förderung gendersensibler Bubenarbeit in Erziehung und Unterricht.
Foto: Elodie Grethen

STANDARD: Haben sich die Formen von Gewalt verändert?

Leeb: Wir sind insgesamt sensibler geworden, deshalb ist das schwer zu sagen. Ich schaue mir manchmal Gewaltfilme an, um zu sehen, was die Jugendlichen sehen. Im ersten Moment erschrecke ich oft, aber wenn man sich Filme mit Frank Sinatra oder John Wayne ansieht, sieht man, dass die auch extrem gewalttätig waren. Vielleicht wird heute nur besser mit Effekten gearbeitet. Letztlich ist es eine Machtfaszination, die uns in einem gewissen Sinne als Ventil dient. Wir brauchen gewisse Ventile, weil wir oft ohnmächtig sind. Geradezu marginalisierte Burschen oder jene, die selbst Gewalt erleben, leben diese Machtfaszination anders aus und neigen vielleicht eher dazu zuzuschlagen – wenn die Auseinandersetzung damit fehlt. Wenn wir über Gewalt sprechen, ist sie da, und im besten Fall können wir sie dann transformieren. Wir können überlegen, was beim nächsten Mal passiert, wie wir ihr Verhaltensrepertoire erweitern können.

STANDARD: Die Machtfaszination zieht offenbar sehr viel stärker Buben an. Warum?

Leeb: Das hat natürlich etwas Patriarchales. Inwieweit sich das ändert mit Filmen mit Frauen wie etwa "Wonder Woman", wird sich zeigen. Darin sind Frauen zwar auch gewalttätig, gleichzeitig werden sie stark sexualisiert dargestellt, und oft ist der Mächtigste doch wieder ein Mann, ein Gott etwa. Ein weiterer Fakt ist natürlich die Pornografie, die massiv überhandgenommen hat. Als ich noch Lehrer war, hatten wir einen Fall, wo ein Zehnjähriger einem Sechsjährigen am Klo einen Hardcoreporno gezeigt hat. Das hat ihm damals jemand geschickt, und es war noch nicht so verfügbar wie heute. Jetzt haben wir das in ganz vielen Schulen, auch in den Pausen zu unseren Workshops bekomme ich mit, dass sich die Jugendlichen in den Pausen Pornos ansehen und herzeigen. Die Verfügbarkeit ist heute eine ganz andere.

STANDARD: Und die Mainstreampornografie transportiert wiederum eine starke Überlegenheitssymbolik von Männer gegenüber Frauen.

Leeb: Es ist schon auch vielfältiger, es gibt viel alternative Pornografie, und große Portale wie Pornhub schauen angeblich darauf, dass da etwa nichts mit Kinderpornografie drauf ist, sonst wären sie schnell weg. Aber bei allem, was so im halblegalen Bereich ist, ist alles zu sehen. Die Narrative werden nicht hinterfragt, und da finden sich dann alle: die Extremisten genauso wie die Maskulinisten. Diese Bilder verstärken die Misogynie und verschärfen natürlich auch Gewalt.

STANDARD: Warum töten Männer ihre Partnerinnen oder Ehepartnerinnen?

Leeb: Femizide sind nur die Spitze des Eisbergs, wir sehen, dass Gewalt gegen Frauen im Alltag ständig präsent ist, dass sich Typen nicht zu blöd sind, ein Fenster runterzukurbeln und aus dem Auto eine Frau blöd anzusprechen. Dass das die Realität für Frauen sein muss, das sagt schon viel.

Der Mord selbst hat tausend Gründe. Ein Mord ist auch eine Manifestierung einer Situation, in der ein Mann seine Macht ausspielt oder seine Ohnmacht, je nachdem, wie er das interpretiert. Die Gründe sind mannigfaltig, manchmal geht es ums Geld, um die Ehre, um Eifersucht – aber das Grundübel ist dann halt die Machtausübung. Aber die passiert eben viel früher schon.

Das Problem ist Männlichkeit. Männer wachsen in einem Umfeld auf, das ihnen immer wieder zuflüstert, dass wir die Mächtigen sind. Man kann aber auch nicht sagen, wir sind die Schwachen – das ist ja genauso ein Blödsinn.

STANDARD: Ist Präventionsarbeit der wichtigste Weg?

Leeb: Bubenarbeit heißt erst einmal nur, dass wir Burschen unterstützen, über Emotionen und ihre Gedanken zu sprechen, weil sie toxische Männlichkeitszuschreibungen zu Tätern, aber auch Opfern von anderen Männern machen können. Wir sagen auch, schaut mal, wie es den Mädchen und Frauen geht. Der Geschlechterdialog ist zentral. Die Bildung braucht hierbei viel mehr Unterstützung und Bewusstseinsarbeit. (Beate Hausbichler, 25.11.2022)