Im Gastblog analysieren Johannes Leitner, Hannes Meissner und Elkhan Nuriyev die Motive und Ziele hinter dem Krieg in der Ukraine.

Die Welt von heute befindet sich in einer der größten geopolitischen Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg. Noch scheint unklar, wo diese münden und wie die Welt von morgen aussehen wird. Die Konsequenzen der geopolitischen Konfrontation, die vordergründig in dem Krieg Russlands mit der Ukraine traurige Realität geworden sind, gehen jedoch weit über die zwischenstaatliche Konstellation hinaus.

Die USA und Russland führen geopolitische Auseinandersetzungen, auch in der Ukraine.
Foto: DENIS BALIBOUSE/AFP

Der Krieg in der Ukraine ist ein geopolitischer Konflikt globaler Dimension. Dabei handelt es sich um eine Stellvertreterkonfrontation, im Wesentlichen zwischen Russland und den USA. Zunehmend zeigen sich dabei die globalen Bruchlinien entlang der Achse Russland, China, Iran und deren Verbündete einerseits, und der USA, Europa und deren Partnern andererseits. Es ist eine geopolitische Auseinandersetzung, die auch mit moralischen Argumenten geführt wird. Hier die Gemeinschaft rechtsstaatlicher Demokratien, die die nach dem zweiten Weltkrieg errichtete normative Weltordnung, basierend auf Regeln und Verträgen verteidigt. Dort die autoritären Staaten, die als Nuklearmächte und getragen vom chinesischen Wirtschaftsaufstieg ein neues Selbstbewusstsein erlangt haben und sich in ihrer Argumentation gegen eine Weltordnung richten, die aus ihrer Sicht von westlichen Eliten diktiert wird.

Globale Geopolitische Konfrontation im postsowjetischen Raum

Im postsowjetischen Raum sehen wir eine geopolitische Konfrontation, bei der die Ukraine und andere osteuropäische Länder entgegen ihrer grundlegenden Interessen gezwungen sind, sich für eine Seite zu entscheiden. Nach der Niederschlagung der Proteste hat sich Weißrussland endgültig auf die Seite Russlands gestellt. Wir sehen so eine erzwungene "Reintegration" des postsowjetischen Raumes, wirtschaftlich durch die Eurasische Wirtschaftsunion (EEU), militärisch durch die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), und vielleicht bald auch eine politische Reintegration. Auf letzteres könnte der Vorschlag Alexander Lukaschenkos hindeuten, auch andere Staaten könnten der Staatenunion zwischen Russland und Belarus beitreten.

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine und die darauffolgende hybride und wirtschaftliche Kriegsführung zwischen Russland und dem Westen bedrohen die derzeitige geopolitische Struktur und die Stabilität im gesamten postsowjetischen Raum. Dies trifft insbesondere neben Georgien und Moldau als auch auf die zentralasiatischen Staaten zu. Kasachstan und Usbekistan versuchen sich in einem Drahtseilakt, um bestmöglich von der komplexen Konfliktsituation ökonomisch und politisch zu profitieren. Doch Kasachstan ist verletzlich, in der Region Nordkasachstan lebt eine russische Bevölkerungsmehrheit, die nach dem Vorbild der Ostukraine mobilisiert und instrumentalisiert werden könnte. Auch Usbekistan ist angreifbar, wie die Aufstände in Karakalpakstan im Sommer bewiesen haben. Diese waren möglicherweise bewusst durch den russischen Auslandsgeheimdienst geschürt, um Präsident Mirsijojew die wahren Kräfteverhältnisse und Abhängigkeiten aufzuzeigen. 

Wohin führt der Krieg in der Ukraine?

Die jüngsten groß angelegten Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur, auf die militärische Kommunikation und Kommandoposten in Kiew, Lwiw, Dnipro, Saporischschja und anderen Regionen kommen wenig überraschend, da Wladimir Putin bereits davor seine Bereitschaft signalisiert hatte, zu einer immer brutaleren Taktik überzugehen, um das Blatt im Krieg zu wenden. Ziel ist es, massive, unkontrollierbare Angst in der Ukraine und darüber hinaus zu erzeugen. Wir sehen nun einen auf Langfristigkeit angelegten, durch brutale, unberechenbare Kriegsführung und Schläge auf die Energieinfrastruktur gerichteten Zersetzungskrieg gegen die Ukraine.

Sollte dieser Plan nicht aufgehen, werden wohl weitere Eskalationsschritte folgen. Von Beginn an setzte Putin begleitend auf Soft-Power Strategien, konkret die Unterstützung rechtspopulistischer Bewegungen in westlichen Ländern, die Spaltung der EU durch die Mobilisierung von Partnerschaften (insbesondere mit Viktor Orbán), Zuckerbrot und Peitsche im Gaskonflikt, im Zuge dessen weiterhin mit der Inbetriebnahme von Nord-Steam 2 gewunken wird. Ziel ist, die Unterstützung für die Ukraine in den westlichen Gesellschaften möglichst rasch erodieren zu lassen.

Die russische Sicht auf den Krieg mit der Ukraine

Die durchaus wirksamen Sanktionen des Westens gegen Russland werden den Krieg nicht stoppen. Russlands Invasion folgt einem seit langem vorbereitetem Protokoll. Putin hielt diesen Krieg für unvermeidlich, weil er überzeugt ist, dass die USA und die EU Russland schwächen und unterwerfen wollen. Von Beginn des Krieges an war den allermeisten Analystinnen und Analysten sowie Politikerinnen und Politikern weitestgehend unklar, warum sich Putin zu diesem Krieg entschlossen hatte. Ökonomisch rationale Argumente können nicht den Ausschlag gegeben haben. Daher wurde auch den Warnungen amerikanischer Geheimdienste wenig Glauben geschenkt. Aber was sonst sind die Gründe, die diesen Angriffskrieg in den Augen Putins und der russischen Machtzirkel legitimieren? Wie sieht und interpretiert Russlands Machtelite die Welt und sein eigenes nationales Schicksal, das durch eine jahrhundertelange von Kriegen geprägte Geschichte geformt wurde? Aus Sicht der postsowjetischen Machtelite war der Zusammenbruch des Sowjetimperiums eine katastrophale Demütigung. Heute sieht sich Putin als Führer einer einzigartigen slawischen Nation, die sich im Krieg mit dem Westen befindet, und ist entschlossen, das globale Kräftegleichgewicht neu zu justieren und Russland seinen Platz als Großmacht zurückzugeben.

Der Rückzug aus Cherson, und die Proklamation korrigierter Kriegsziele, konkret die Eingliederung des Donbas und die Sicherung einer Landbrücke zur Krim, dürfen nicht zur Annahme verleiten, dass Russland einlenken wird, bevor die eigentlichen Ziele erreicht sind: Die Wiedereingliederung der Ukraine in den russischen Einflussbereich im konkreten Einzelfall und die grundsätzliche Anerkennung Russlands als Weltmacht durch die USA, durch Akzeptanz des russischen Herrschaftsanspruchs im postsowjetischen Raum und damit verbundene Sicherheitsgarantien. Die Aufnahme von Gesprächen auf Augenhöhe wären für die USA und die westliche Staatengemeinschaft allerdings ein schmerzhafter Schritt, der nicht nur mit einem massiven Gesichtsverlust verbunden wäre. Es wäre letztendlich das Eingeständnis, dass die westlich dominierte, auf Verträgen basierte Weltordnung, die seit den 1990er Jahren unipolare Züge trug, endgültig der Vergangenheit angehört.

Ziel: Geopolitische Neuordnung

Durch die Konsolidierung des strategischen Bündnisses mit China will Russland zu einem neuen Machtpol in der globalen Arena werden. Wenn Moskau und Peking einen nachhaltigen Modus der Kooperation finden, können sie ein Gegengewicht zu den USA schaffen und den globalen Status quo verändern, da die geopolitischen Interessen beider Länder durchaus kompatibel sind. Eine Neuordnung würde Russland ermöglichen, die Vorteile eines solchen Machtblocks voll auszuschöpfen und politische und wirtschaftliche Institutionen wie die Eurasische Wirtschaftsunion (EAEU), die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), die BRICS und die Shanghai Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) um sich herum zu bündeln.

Putin und dem russischen Machtzirkel geht es um weit mehr als um die Ukraine. Es geht um eine aus seiner Sicht notwendige Neuordnung der geopolitischen Machtverhältnisse. Insbesondere im postsowjetischen Raum, aber auch darüber hinaus. Es ist als strategisches Projekt angelegt. Hierauf muss die westliche Welt Antworten und Strategien finden. (Johannes Leitner, Hannes Meissner, Elkhan Nuriyev 25.11.2022)

Johannes Leitner leitet des Kompetenzzentrum Schwarzmeerregiom an der FH des BFI Wien.

Hannes Meissner lehrt unter anderem an der Universitat Wien und ist akademischer Koordinator des Projektes EUCON.

Elkhan Nuriyev ist Senior Fellow der Alexander von Humboldt-Stiftung in Berlin.

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