Die große Idee, Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen, ist gescheitert, sagt der deutsche Politikwissenschafter Herfried Münkler. In diesem Gastkommentar bringt der STANDARD Auszüge aus Münklers Festrede zur Eröffnung der Buch Wien.

Die Vorstellung einer regelbasierten, auf Werten begründeten und von Normen getriebenen Weltordnung, einer Ordnung, die mehr auf wirtschaftlicher denn militärischer Macht beruhen und in der strittige Fragen von internationalen Schiedsgerichten geklärt werden sollten, war den Europäern wie auf den Leib geschneidert. Sie entsprach nicht nur ihren Vorstellungen von einer friedlichen Zukunft, sondern korrespondierte auch den Fähigkeiten, über die sie verfügten. Demgemäß nötigte sie die Europäer auch nicht, Ressourcen aufzubauen und Kompetenzen zu entwickeln, die sie nun einmal nicht hatten.
Das erklärt, warum die EU-Europäer – mit Ausnahme der baltischen Staaten und Polens – bis zuletzt, bis zum Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar diesen Jahres, an diesem Weltordnungsentwurf festhielten und darauf setzten, dass Wladimir Putin nicht so dumm sein würde, die Ukraine zu überfallen. Damit nämlich würde er den Westen zwingen, wirkliche Sanktionen gegen Russland zu verhängen und sich nicht länger auf weitgehend symbolische Sanktionen zu beschränken, wie das 2014 nach der russischen Annexion der Krim und der Schaffung der Separatistengebiete im Donbass der Fall war. Russland würde dann, so dürften die im Januar und Februar nach Moskau geeilten europäischen Politiker gegenüber Putin argumentiert haben, zu einer wirtschaftlich weitgehend von China abhängigen Größe werden –, und das könne doch kaum in Putins Interesse liegen.
Keine Rückkehr
Es war dies eine Argumentation, deren Rationalität wesentlich durch den von den Europäern präferierten Weltordnungsentwurf geprägt war. Einen Entwurf, von dem man annahm, dass er in Europa schon weithin Wirklichkeit geworden sei, eine Ordnung von Regeln und Werten eben, in der neben den Vorgaben des Völkerrechts ökonomisch geprägte Kalküle den Ausschlag geben sollten.
Es ist anders gekommen. Zwar gibt es nach wie vor eine Reihe von Politikern, die der Auffassung sind, man dürfe sich durch den Ukraine-Krieg diesen Weltordnungsentwurf nach dem Motto "Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" nicht kaputtmachen lassen und könne nach dem hoffentlich baldigen Ende des Krieges wieder zu dem Modell einer auf Recht und wirtschaftlicher Macht gegründeten internationalen Ordnung zurückkehren. Aber mit jedem Tag, den der Krieg in der Ukraine fortdauert und die Anwendung militärischer Gewalt seitens des russischen Militärs eskaliert, wird diese Rückkehrvorstellung mehr und mehr zur Illusion.
Revisionistische Macht
Auch nach einem wie auch immer gearteten Waffenstillstand wird Russland eine revisionistische Macht sein, die bei nächstbester Gelegenheit versuchen könnte, ihre Ziele im Schwarzmeerraum doch noch mit Waffengewalt zu erreichen. Und auf der Gegenseite wird die Ukraine bestrebt sein, den Status von vor 2014 wiederherzustellen, also auch die Annexion der Krim rückgängig zu machen und den Donbass wieder vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen.
"Mit gutem Zureden dürfte es kaum getan sein."
Währenddessen werden die Europäer dafür Sorge tragen müssen, dass die Waffenruhe aufrechterhalten bleibt und die Transportschiffe mit Getreide oder Speiseöl einigermaßen sicher das Schwarze Meer befahren können. Um das sicherzustellen, dürfte es mit gutem Zureden kaum getan sein. Währenddessen werden sich die USA aus der europäischen Sicherheitspolitik, in die sie während des Ukraine-Krieges zurückgekehrt sind, wieder zurückziehen, sodass die Pazifizierung des gewaltigen Raumes vom Kaukasus bis zum Westbalkan mit dem Schwarzen Meer im Zentrum und der Ukraine im Norden sowie der Türkei mitsamt ihren zahlreichen Konflikten im Süden eine Herausforderung sein wird, der sich im Wesentlichen die Europäer zu stellen haben. Sie sollten schon jetzt damit beginnen, sich darauf einzustellen.
Das heißt: Verabschiedung von der bis vor kurzem gehegten Weltordnungsvorstellung, eine geopolitische Bestandsaufnahme mit dem Ziel, die großen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte zu beschreiben, um die Voraussetzungen zu schaffen, ihnen gewachsen zu sein, und vor allem eine Selbstverwandlung der Europäischen Union aus einem Regelbewirtschafter in einen politisch handlungsfähigen Akteur. – Das ist dann produktive Enttäuschungsverarbeitung.
"Hinter der Politik der letzten zwanzig Jahre standen eine große Idee und ein strategischer Plan, die freilich gescheitert sind."
Im Rückblick ist häufig von der Naivität die Rede, der die meisten europäischen Politiker während der letzten zwei Jahrzehnte gefrönt hätten, oder es werden die Metaphern des Schlafs und des Traums verwendet, in denen sich die europäische Politik gewiegt habe. Mit einem Mal wollen es fast alle, Politiker wie Journalisten, Wissenschafter wie Publizisten, schon immer gewusst haben, dass das Projekt des "Frieden-Schaffens mit immer weniger Waffen" scheitern werde und dass ihm angehangen zu haben eine Form von Lagevergessenheit und eben Naivität gewesen sei. Was jetzt stattfinde, sei ein "Erwachen in der Wirklichkeit".
Ich will stattdessen zeigen, dass hinter der Politik der letzten zwanzig Jahre eine große Idee und ein strategischer Plan standen, die freilich gescheitert sind. Und dass die Metapher des Erwachens eine Verharmlosung der Herausforderungen ist, vor denen die Europäer jetzt stehen, denn diese Herausforderungen laufen auf eine gänzlich andere Weltordnung und eine grundlegend andere Strategie der Friedenssicherung hinaus.


Praktisch und günstig
Auf den ersten Blick kam das Vorhaben, die Weltordnung wesentlich auf wirtschaftliche und nicht, wie in der Vergangenheit, auf militärische Macht zu gründen, ausgesprochen realistisch daher. Der Aufbau militärischer Macht läuft nämlich immer auf unproduktive Ausgaben hinaus, auf die Anschaffung und Pflege von Waffensystemen, von denen zugleich angenommen wird, dass sie nie zum Einsatz kommen sollen. Wirtschaftliche Macht dagegen ist gleichbedeutend mit Wohlstand, sie befriedet Gesellschaften in ihrem Innern, und wenn sie obendrein zur Verhaltensbeeinflussung äußerer Mächte eingesetzt werden kann, werden gewissermaßen "zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen". Das ist praktisch und kostengünstig: ein Regulationssystem, das nicht auf militärischer Gewalt, sondern auf einer Kombination von ökonomischen Gratifikationen und Sanktionen beruht. Wenn man dabei das Übergewicht der wirtschaftlich Mächtigen noch begrenzt, indem man diese einer Rechtsordnung mit Regeln und Schiedsgerichten unterwirft, um die Schwachen zu schützen, hat man obendrein auch noch dem Imperativ der ausgleichenden Gerechtigkeit Genüge getan.
Eine solche Weltordnung, die nach dem Ende des Kalten Krieges als "work in progress" angesehen werden konnte, war zweifellos das Beste, was man sich realistischerweise als globale Ordnung vorstellen konnte. Obendrein wurden mit der schrittweisen Ersetzung militärischer durch wirtschaftliche Macht jene Ressourcen verfügbar, die man brauchte, um die großen Menschheitsaufgaben des 21. Jahrhunderts angehen zu können: die Begrenzung von Klimawandel und Artensterben, die Bekämpfung des Hungers im Globalen Süden und die Entschleunigung der globalen Migrationsbewegungen. Aus dem rhetorischen "Wir" der Menschheit sollte ein reales, handlungsfähiges, gestaltungsmächtiges "Wir" werden.
"Einmal mehr haben sich die Vereinten Nationen als zu schwach erwiesen."
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Rolle des Hilflosen, die den Vereinten Nationen seit Beginn dieses Krieges zugefallen ist, sind Vorgänge, die das Scheitern des Weltordnungsprojekts "Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen" sichtbar und sinnfällig gemacht haben. Einmal mehr haben sich die Vereinten Nationen als zu schwach erwiesen. Alle Anläufe zu einer Reform sind im Sand verlaufen, und es ist nicht erkennbar, dass sich hier noch etwas bewegen lässt. Erst recht nicht nach diesem Krieg. Mit der Weltorganisation wird man nicht rechnen können.
Infolgedessen haben in den letzten drei Jahrzehnten die USA die Rolle eines Hüters der globalen Ordnung eingenommen, doch von Somalia bis Afghanistan haben sie sich dabei nicht sonderlich geschickt angestellt, sind immer wieder in den Verdacht geraten, eher ihre eigenen Interessen als Weltmacht zu verfolgen denn die der Weltgemeinschaft, und schließlich sind ihnen die Lasten und Kosten der Hüterposition zu groß geworden, und sie haben sich demonstrativ aus dieser Rolle verabschiedet. "America first", lautete die von US-Präsident DonaldTrump dafür ausgegebene Formel. Eine Alternative zu den USA ist indes nicht in Sicht: Die Europäer sind dafür untereinander nicht einig genug, und die Chinesen, die ja zeitweilig als Nachfolgemacht der USA gehandelt wurden, haben andere Interessen, als sich durch globale Aufgaben in Anspruch nehmen zu lassen.
Chinesische Einflussgebiete
Die regelbasierte und auf Werte gestützte Weltordnung sollte die Bildung von Einflussgebieten durch die großen Mächte überflüssig machen, und zwar durch den freien Zugang zum Weltmarkt und die Bildung globaler Handelsketten, die an die Stelle einer politischen und notfalls auch militärischen Kontrolle von rohstoffreichen Einflussgebieten durch die großen Mächte treten sollten. Nun haben sich die globalen Handelsketten bereits während der jüngsten Pandemie als erheblich störungsanfällig erwiesen, der freie Zugang zum Weltmarkt ist obendrein durch die westlichen Wirtschaftssanktionen konterkariert worden, und die Entkoppelung der westeuropäisch-atlantischen Wirtschaftskreisläufe vom russischen Wirtschaftskreislauf hat die Vorstellung von Interessen- und Einflussgebieten, aus denen verlässlich Rohstoffe und Energieträger bezogen werden, wieder attraktiv werden lassen. Vor allem aber hat China im Rahmen seiner Seidenstraßenstrategie seit längerem schon auf die Herstellung von Einflussgebieten gesetzt und dabei große Räume in Zentralasien und Afrika in seine Abhängigkeit gebracht.
"Ist nur einer unter ihnen, der von Ressentiments getrieben ist, so greift die wirtschaftliche Macht nicht."
Bleibt noch die Frage zu beantworten, warum bei Beginn des russischen Angriffskriegs die Instrumente der wirtschaftlichen Macht nicht gegriffen haben, weder als Abschreckungsmittel noch zwecks einer relevanten Einschränkung der Kriegführungsfähigkeit des Angreifers. Offenbar ist eine elementare Voraussetzung dieses Systems, dass die verantwortlichen Politiker der großen Mächte kalkülrationale Akteure sind, die ihre Entscheidungen auf der Grundlage von Kosten-Nutzen-Bilanzen treffen. Ist nur einer unter ihnen, der von Ressentiments getrieben ist, so greift die wirtschaftliche Macht nicht, weil die wirtschaftliche Bilanz in seinen Entscheidungen von Erinnerungsnarrativen an einstige Macht und Größe überlagert ist.
Dazu kommt ein "time lag", ein gegenüber militärischer Gewalt verzögertes Wirksamwerden wirtschaftlicher Macht, das bei dem, der sich des Militärs bedient, die Vorstellung aufkommen lässt, er könne mit einem kurzen und räumlich begrenzten Krieg vollendete Tatsachen schaffen, die nach einiger Zeit, weil die Gegenseite sie kurzfristig ohnehin nicht revidieren könne, von der Weltgemeinschaft irgendwie schon hingenommen werde.
Erfolgreicher Widerstand
Wahrscheinlich hat das vorsichtige und zurückhaltende Agieren des Westens nach der Krim-Annexion Putin in der Auffassung bestärkt, derlei könne auch bei der Übernahme der gesamten Ukraine oder doch bei der Annexion der Gebiete links des Dnipro gelingen.
Darin hat Putin sich verkalkuliert, denn weder hat das russische Militär innerhalb weniger Tage die gesamte Ukraine besetzen können, noch hat der Westen darauf verzichtet, nachhaltige Sanktionen gegen Russland zu verhängen, und vor allem hat der erfolgreiche Widerstand der ukrainischen Streitkräfte den westlichen Ländern die Möglichkeit verschafft, das ukrainische Militär durch entsprechende Waffen- und Munitionslieferungen so zu ertüchtigen, dass es der russischen Übermacht nicht nur standgehalten hat, sondern diese inzwischen auch zurückzudrängen vermochte. Kurzum: Der Westen erhielt die Gelegenheit, den Einsatz wirtschaftlicher Macht durch die Bereitstellung militärischer Macht zu ergänzen oder zu ersetzen, und das lief auf eine grundlegende Revision der bis dahin verfolgten sicherheitspolitischen Strategie hinaus.
"Militärische Macht wird wieder eine deutlich größere Rolle spielen."
Ohne Hüter hat die Weltordnung der Regeln und Werte keine Glaubwürdigkeit. In Anbetracht der jüngsten Erfahrungen mit Krieg und Gewaltandrohung ist eine neue Runde bei der Proliferation von Atomwaffen zu befürchten. Militärische Macht wird wieder eine deutlich größere Rolle spielen, die Sicherung des Friedens vom Westbalkan bis zum Kaukasus unter Einschluss der Ukraine wird erhebliche Ressourcen verschlingen, und all das hat zur Folge, dass die Europäer den Höhepunkt ihres Wohlstands für lange Zeit überschritten haben dürften.
Fünf große Mächte
Der Erwartungshorizont, den wir noch zu Beginn des Jahres vor uns hatten, hat sich in nichts aufgelöst, und allmählich entwickelt sich ein neues Modell der Weltordnung, das derzeit freilich erst in Umrissen erkennbar ist. Es handelt sich um eine Ordnung von fünf großen Mächten, die nach den Grundsätzen von Gleichgewicht und Übergewicht aufeinander einwirken.
Wer werden diese fünf Mächte sein? Mit Sicherheit die USA und China, was dann auch heißt, dass es nicht zu der von vielen prognostizierten Ablösung des amerikanischen durch ein chinesisches Zeitalter kommen wird, sondern zu einer Balance beider Mächte. Weiterhin sind als die jeweiligen Juniorpartner Chinas und der USA Russland und die Europäische Union zu nennen, wobei Russland diesen Platz nur ob seiner Atomwaffen plus Trägersysteme und seiner geopolitischen Lage als nordasiatische Landbrücke vom östlichen Rand Europas bis zum Pazifik beanspruchen kann. Wirtschaftlich wird es von China als eine Art von Rohstoffkolonie abhängig sein.
Objekt oder Subjekt des Geschehens?
Die EU-Europäer wiederum werden vom nuklearen Schutzschirm der USA abhängig sein, wirtschaftlich aber eher selbstständig auftreten und, wenn es ihnen gelingt, in höherem Maße ein politischer Akteur zu werden, als sie das zurzeit sind, auch in politischer Hinsicht über eine gewisse strategische Autonomie verfügen. All das wird freilich von der politischen Weiterentwicklung der EU in der nächsten Zukunft abhängen, und daran wird sich auch entscheiden, ob die Europäer bei Aufbau und Ausgestaltung der neuen Weltordnung eher Objekt oder Subjekt des Geschehens sein werden. Die fünfte Macht dieses Systems dürfte im Übrigen Indien sein, und ihm wird wahrscheinlich auch die Rolle eines Züngleins an der Waage zufallen.
In der Regel sind diese Fünfersysteme durch Zweierkonstellationen geprägt, bei deren Zustandekommen geostrategische, aber auch verfassungspolitische und sozialstrukturelle Aspekte eine Rolle spielen. So ist mit einer Allianz der liberaldemokratischen Rechtsstaaten, also bestehend aus den Nordamerikanern, den Europäern und einigen anderen, auf der einen Seite zu rechnen und den autoritären Regimen, wie Russland und China, auf der anderen Seite.
Keine starren Allianzen
Aber dies werden, vermute ich, keine allzu festen und starren Allianzen sein, sondern es dürften sich immer wieder entlang bestimmter Fragen auch Querkoalitionen bilden, die eine erhebliche politische Beweglichkeit ermöglichen. Und bei all dem werden immer wieder auch Allianzen mit denjenigen Staaten eine Rolle spielen, die nicht zu der beschriebenen Pentarchie gehören: denen in Südostasien und in Lateinamerika, in Afrika und in der islamischen Welt, und wenn ich recht sehe, hat das Ringen um deren jeweilige Unterstützung schon jetzt begonnen. Effektive Enttäuschungsverarbeitung läuft darauf hinaus, sich auf diese Neuformatierung der globalen Konstellationen so schnell wie möglich einzustellen. (Herfried Münkler, 23.11.2022)