Protest des Gewerkschaftsbunds CGT in Frankreich Mitte November für höhere Löhne.

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Erst einmal geht es kräftig nach oben. Die Verhandler der deutschen Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg, jenem Bundesland, dessen Abschlüsse oft als Vorbild für andere deutsche Länder gelten, haben sich vergangene Woche auf den neuen Kollektivvertrag geeinigt. Die Löhne der Industriebeschäftigten in dem Land steigen demnach um 8,5 Prozent. Dazu gibt es 3.000 Euro an Einmalzahlungen. Sind das ersten Anzeichen einer Lohn-Preis-Spirale, von der manche Ökonomen gern warnen?

Unwahrscheinlich. Experten wie Frederik Ducrozet, der für den Schweizer Vermögensverwalter Pictet Wealth Management die Entwicklungen in der Eurozone beobachtet, spricht zwar von einem Abschluss am oberen Ende der Erwartungen. Bei genauerem Hinsehen ist der Deal aber wenig spektakulär. Die Tariferhöhung gilt bis September 2024, deckt also zwei Jahre ab – die Löhne steigen im kommenden Jahr um 5,2 und dann um 3,3 Prozent.

Die deutschen Industriearbeiter können dennoch zufrieden sein, vor allem, wenn sie sich die Entwicklung in der übrigen Eurozone ansehen. Die Inflation im Euroraum hat einen Rekordwert erreicht, die Preise lagen im Oktober um 10,6 Prozent über dem Vorjahr. Die Gehälter bleiben allerdings zurück.

Aktuelle Daten zeigen höheren Anstieg

Die Europäische Zentralbank (EZB) wertet die Entwicklung der Tarifverträge in den 19 Eurostaaten aus. Demnach liegen die Tariflöhne um 2,57 Prozent höher als vor einem Jahr. Allerdings werden diese Daten mit Zeitverzögerung gemeldet, weshalb neue Entwicklungen in der zweiten Jahreshälfte 2022 noch nicht erfasst sind. Der Dienstleister Oxford Economics hat daher eine eigene Datenbank gebaut, aus der die Lohnentwicklung für einige Euroländer wie Österreich immerhin bis September abgelesen werden kann. Aber auch hier beträgt das Plus bloß um die 2,6 Prozent.

Allerdings werden in beiden Analysen Kollektivverträge aller Branchen einbezogen, also auch solcher, deren letzter Tarifabschluss bereits mehrere Monate zurückliegt. Das sorgt dafür, dass die aktuellen Entwicklungen weniger gut eingefangen werden können. Um das Bild zu vervollständigen, hat die irische Notenbank einen eigenen "wage tracker" entwickelt, der mit Echtzeitdaten die Entwicklung abbilden soll.

Dabei werden Informationen aus Stellenanzeigen auf der Jobplattform Indeed ausgewertet. Eine Analyse von mehr als 20 Millionen Inseraten zeigt, dass sich bei den Löhnen tatsächlich mehr getan hat. Demnach lagen die Löhne in den Ausschreibungen mit Ende Oktober um gut 5,3 Prozent über dem Vorjahreswert. Wobei es national große Unterschiede gab. In Deutschland wird in neuen Stellengesuchen im Schnitt um 7,1 Prozent mehr Lohn geboten. Demgegenüber ist die Lohnentwicklung in Italien mit einem Plus von 4,2 Prozent verhaltener, ebenso in Frankreich (3,5 Prozent Anstieg) und in Irland (4,7 Prozent). Österreich ist nicht Teil der Gruppe ausgewerteter Länder. Der Anstieg hat sich zuletzt bereits leicht abgeflacht.

Angel Talavera, Ökonom bei Oxford Analytics, rechnet mit einem Anstieg bei den Tariflöhnen in den kommenden Monaten in der Eurozone, vor allem, weil nun laufend neue Abschlüsse in Kraft treten und damit den Gesamtwert nach oben treiben. Die Kluft zu zweistelligen Inflationszahlen wird das dennoch nicht so rasch schließen.

In den USA sind die Löhne laut Zahlen der Fed in Atlanta, einem Ableger der US-Notenbank, übrigens stärker gestiegen als in Europa. Stundenlöhne sind dort insgesamt um fast sieben Prozent über dem Vorjahreswert. Löhne in den USA reagieren traditionell schneller, sagt dazu Ökonom Talavera, der US-Arbeitsmarkt sei anders: Arbeitnehmer wechseln dort öfter ihre Jobs, dazu komme, dass die Arbeitslosigkeit in den USA derzeit niedriger ist als in der Eurozone. Die Kluft zu den USA dürfte also bestehen bleiben. (András Szigetvari, 24.11.2022)