Der Wiener Architekturhistoriker Michael Falser berichtet im Gastblog über sein Forschungsprojekt zur kuriosen Episode der Österreichisch-Ungarischen Konzession in Tientsin/Tianjin in China von 1901 bis 1917.

Als Spiegelbild der heutigen "Globalisierung" setzt sich das Fach Globalgeschichte unter anderem mit dem weltumspannenden Einfluss sogenannter Empire Nations wie Großbritannien oder Frankreich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auseinander. Hier setzt das vorgestellte Forschungsprojekt aus dem Blickwinkel einer "Globalen Architekturgeschichte" an, das gerade im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften als Monografie publiziert wurde: in klassischen Habsburg-Studien mit ihrem Fokus auf europäische Kronländer blieb der weltweite Einfluss der k. u. k. Monarchie bisher weitestgehend ausgeblendet – als veritablen blind spot der Forschung kann man etwa die Beteiligung am "Internationalen Settlement" von Tientsin (heute Tianjin/China) bezeichnen, wo Österreich-Ungarn kurz nach 1900 sogar eine eigene Handelsniederlassung ("Konzession") plante.

Karte der "Neubegrenzungen der Fremdniederlassungen in Tientsin" in Theodor von Winterhalders Publikation "Kämpfe in China. Eine Darstellung der Wirren und der Beteiligung von Österreich-Ungarns Seemacht an deren Niederwerfung in den Jahren 1900–1901". Wien, Budapest 1902, S. 539.
Foto: Österreichische Nationalbibliothek Wien

Was im Reigen mit sieben anderen Staaten vor Ort auch für die späte Habsburgermonarchie unter der Signatur "Welt-Handel" bis nach Fernost begann und heute kritisch als imperialistische Hybris bezeichnet werden muss, entlud sich wenig später in einer globalen Kettenreaktion im Ersten "Welt-Krieg": als China 1917 Deutschland wie Österreich den Krieg erklärte, wurden beide Konzessionen sofort kampflos übergeben, während andere Länder noch bis zum Zweiten Weltkrieg präsent blieben.

Habsburgischer Handelsstützpunkt im Fernen Osten

Tientsin (oder Tianjin, wie es heute genannt wird) war schon lange vor dem imperialistischen impact im 19. Jahrhundert eine dicht besiedelte chinesische Handelsstadt. Am künstlich geschaffenen Kaiserkanal verband sie das nordwestlich gelegene Peking mit dem Pazifik im Osten. Genau diese Lage machte sie für fremde imperiale Handelsmächte interessant. Und während Frankreich und England bereits ab den 1860er-Jahren dem politisch und militärisch geschwächten China mit sogenannten "ungleichen Verträgen" dauerhaft besetzte Handelsniederlassungen mit eigener Rechtsprechung abgerungen hatten, kamen um 1900 – vor allem im Kontext des international niedergeschlagenen Boxer-Aufstandes – weitere Mächte hinzu: neben Japan, dem Deutschen Reich, Russland, den USA, Italien und Belgien entschloss sich auch die Regierung in Wien und Budapest dazu, am 11. Februar 1901 ein Gebiet östlich der sogenannten "Chinesenstadt" zu besetzen.

Was alles (nicht) entstand

Der in der Folge verhängnisvollste Haken an der Besetzung war auch Grund des Scheiterns des Gesamtprojekts. Österreich-Ungarn war als eine der letzten Mächte in das große scramble for concessions eingestiegen und erhielt somit die letzte und ungünstigste Stelle innerhalb der Internationalen Konzession: Das nicht einmal ein Quadratkilometer große Gebiet war mit circa 30.000 Chinesen und Chinesinnen bereits dicht besiedelt. Langwierige Enteignungen und kaum umgesetzte Umsiedlungen waren der Grund dafür, warum fast alle Planungen von Anfang an zum Scheitern verurteilt waren.

Eine beschriftete Fotografie von 1908 mit einem Blick über die noch bestehende alte Holzbrücke im Bildmittelgrund, die weißen Gebäude des Österreichisch-Ungarischen Konsulats im Hintergrund, und die Beschriftung derselben mit der Markierung (x) für das geplante, aber nie realisierte "Kaiserdenkmal".
Foto: Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien

Zu den wichtigsten repräsentativen Bauten zählten das 1905 eröffnete Konsulatsgebäude und die 1906 als internationale Kooperation geplante eiserne Drehbrücke über den Hai-Fluss, über die auch eine elektrische Straßenbahn die Konzessionen von Österreich-Ungarn, Italien und Russland mit der "Chinesenstadt" verband. Zentrales Vorzeigeprojekt war weiters eine neue Hauptstraße durch die Österreichisch-Ungarische Konzession, deren Häuserblöcke von einer Art reduziertem Gründerzeit-Stil geziert, aber fast ausschließlich von chinesischen Händlern bewohnt wurden.

Postkarte "Strasse in der oesterr. Koncession, Tientsin" (um 1910).
Foto: Jörg Krasser

Spektakulärer Fund im Archiv

Die österreichisch-ungarische Episode in Tientsin/Tianjin setzte im internationalen Vergleich spät ein, stieß vor allem aufgrund kaum existenter Handelsinfrastruktur zwischen Österreich und China in Wien und Budapest auf wenig Gegenliebe. Sogar die heimische Presse berichtete wenig. Vor Ort wurde letztlich wenig städtebaulich-architektonisch umgesetzt, zusätzlich war das Projekt 1917 bereits wieder vorbei.

Was aber aus der Sicht der heutigen, global orientierten Habsburg- und Architekturforschung noch relevanter ist: Alle Bauakten wurden zwar nach dem Ersten Weltkrieg nach Österreich repatriiert, schlummerten jedoch unbemerkt im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien. Für dieses Projekt konnten mehr als 100 Skizzen, Karten und Pläne, zusammen mit historischem Presse- und Publikationsmaterial, aufgefunden und kontextualisiert werden. Als spektakulärster Fund der vorliegenden Publikation kann ein bisher völlig unbekanntes Album mit insgesamt 115, mit kurzen Bildbeschreibungen begleiteten Schwarz-Weiß-Fotografien gelten, das ein damaliger K.-u.-k.-Beamter 1911 nach einer Flutkatastrophe von der Österreich-Ungarischen Konzession anfertigte. Im Rahmen des Forschungsprojekts wurde dieser Schatz in der Grafiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek gehoben, digitalisiert und erstmals im Anhang des Buches komplett abgedruckt.

Heutiges Fassadenpanorama à la Disneyland

Mit 1917 endete zwar die diplomatische Episode von Österreich-Ungarn in China, doch ihre baulichen Fragmente haben zum Teil die Wirren der letzten 100 Jahre überstanden. Wer heute wie der hier schreibende Autor in die aktuell 15-Millionen Einwohner zählende Metropole Tianjin zurückkehrt und die Architektur- und Stadtplanung untersucht, wird das stark überformte Konsulatsgebäude ebenso wiederfinden wie die eiserne Drehbrücke.

Panorama-Blick über den Hai-Fluss, Stand 2018: Die alte eiserne Straßenbahnbrücke (links) hinüber zur sogenannten Austrian-Style Riverfront mit einer vereinfachten Kopie der Evangelischen Kirche von Salzburg (ganz links), dem heute stark modifizierten K.-u.-k.-Konsulat (in Weiß) und anderen neuen Bauten im abgeflachten Ringstraßen-Stil; dahinter am Horizont die Hochhaus-Skyline von Tianjin.
Foto: Michael Falser

Und obwohl die einstige Hauptstraße durch die ehemalige Österreichisch-Ungarische Konzession längst allerlei Hochhausbauten weichen musste, so bewerben heute lokale Architekturführer einen idyllischen Spaziergang entlang der sogenannten Austrian-Style Riverfront. Hier baut eine findige Stadtregierung von Tianjin seit den letzten Jahren ein stilistisch abgeflachtes, im Maßstab aufgeblasenes und ziemlich disneyeskes Fassadenpanorama à la Wiener Gründerzeit nach, und das größer und – allerdings nur aus der Fernsicht – schöner, als es damals österreichische Städteplanerinnen und Städteplaner sowie Architektinnen und Architekten hätten realisieren können: eine heute weitergebaute Architekturgeschichte als eine artifizielle Art von shared heritage, die in der vorliegenden Publikation als finaler Baustein kultureller Globalisierung in der Kontaktzone Österreich/China thematisiert wird. (Michael Falser, 28.11.2022)