"Evil West" ist ein trashiges Effektfeuerwerk.

Foto: Flying Wild Hog

Jessie Rentier (bitte französisch aussprechen) ist der Prototyp eines knurrigen Cowboys: einsilbig, fluchend und nicht zu Scherzen aufgelegt. Kein Wunder, schließlich ist er Agent einer streng geheimen Organisation, deren Ziel es ist, die Welt von der Vampirplage zu befreien. Die "Sanguisuge" sind aber nur in Ausnahmefällen die klassischen Edelblutsauger im Stil eines Christopher Lee, sondern eher schleimig mutierte Tentakelmonster im Fressrausch. Diese mäht man als Supercowboy reihenweise mit Gewehr, Pistole und im Nahkampf nieder. Nein, allzu viel Hirnschmalz braucht man beim Spielen von "Evil West" nicht.

Natürlich gibt es eine Story, die auch in Cutscenes weitererzählt wird, aber das wichtigste haben wir eigentlich schon im ersten Absatz zusammengefasst. Wirklich aufregend, spannend oder überraschend ist sie nicht, obwohl manch kreativer Fluch und vor allem ein trotteliger Vampirbösewicht schon manchmal die Lachmuskeln reizten.

Die Lichteffekte sind stimmungsvoll.
Foto: Screenshot Flying Wild Hog

Aber um ausgefeilte Plot-Twists, intelligente Dialoge und erwachsenen Humor geht es in einem Spiel wie "Evil West" ohnehin nicht, da stehen andere, handfestere und schlagkräftigere Werte im Vordergrund, und die heißen im aktuellen Fall Schrotflinte, Unterhebelgewehr, Flammenwerfer, Armbrust, Gatlinggun und Elektrofaust. Denn: "Evil West" spielt nicht in einem John-Wayne-Umfeld, sondern in einem in jüngster Zeit etwas populärer gewordenen Setting, für das sich der Name "Weird West" etabliert hat. In diesem Steampunk-Umfeld ziehen wir also los, um den Vampirschergen mit dem genannten Mordwerkzeug das Fell über die Ohren zu ziehen.

Schlauchiger wird es nicht mehr

Spiele im Western- oder Wüstensetting haben sehr häufig das Problem, dass man sich als Spieler schnell am Leveldesign sattgesehen hat. Oder um es drastischer zu formulieren: Prärie- und Wüstenumgebungen in Videospielen sind stinkfad. "Evil West" schafft es, das Problem zu umgehen, indem es uns immer wieder in andere Umgebungen versetzt. Einmal geht es in den Untergrund einer Vampirfestung, einer brennenden Stadt, einer alten Mine, und sogar Dschungellevel haben die Designer eingebaut.

Das Leveldesign selbst ist dabei streng linear. Es geht geradeaus – muss man einmal über einen Abhang hüpfen oder ein primitives Schalterrätsel lösen, hat man schon den Gipfel der Abwechslung gesehen. Ach ja, narkolepsieverursachende Schieberätsel gibt es natürlich auch. Letztendlich dient das alles aber nur dazu, den Spieler von einer Arena in die nächste zu schicken, wo man sich mit Vampiren, Tentakelmonstern, Werwölfen, schildbewehrten Schneckenmonstern und manchmal sogar menschlichen Gegnern prügelt.

Stark in der Arena

Diese Kämpfe sind auch das Kernelement des Spiels, und hier darf "Evil West" endlich seine Stärken ausspielen. Man eröffnet mit dem Gewehr das Feuer, betäubt die erste Welle an Gegnern mit der Elektrofaust, bevor man sie mit dem Flammenwerfer grillt. Kommen einem die Gegner doch zu nahe, setzt es eine Serie von Ohrfeigen, oder Gegner werden in die Luft katapultiert, nur um sie in einen Haufen Dynamit oder eine Stachelfalle zu treten.

Hat man Gegner erst einmal in der Luft, kann man sie im "Devil May Cry"-Stil mit Schüssen aus dem Revolver in der Luft jonglieren. Werden wir einmal von den Gegnerhorden umzingelt, zünden wir einfach eine Blitzentladung und sehen dem schleimigen Blutsaugergezücht zufrieden dabei zu, wie es durch die Druckwelle von den Füßen geholt wird. Besonders dicke Gegner zerlegen wir aus nächster Nähe mit der doppelläufigen Schrotflinte, was vor allem bei gepanzerten Widersachen die effektivste Form der fachgerechten Feindentsorgung darstellt.

Diesen eigentlichen Bossgegner bekommen wir immer wieder zu sehen.
Foto: Screenshot Flying Wild Hog

Besonders starken axtschwingenden Vampiren kann kann man übrigens auch in die Weichteile treten, während sie zum Überkopfschlag ausholen. Das alles macht die Kämpfe abwechslungsreich und entwickelt sogar so etwas wie spielerischen Anspruch, weil man jeden Gegnertyp auf unterschiedliche Weise am effektivsten bekämpft und durch besonders blutig inszenierte Finisher kostbare Lebensenergie zurückerhält.

Daraus entwickelt sich ein actiongeladenes Ballett aus Ausweichen, Ballern, Treten und Prügeln, bei dem man immer die Umgebung im Blick behalten muss, ansonsten geht die Übersicht schnell verloren. Der Schwierigkeitsgrad der Kämpfe kann da auf der normalen Stufe schon recht knackig werden. Das liegt vor allem daran, dass die Entwickler im späteren Spielverlauf einfach Bossgegner als normale Widersacher einsetzen und diese neben der Gattung Vampir auch der Spezies der Bullet Sponges angehören.

Ein technisches Retro-Vergnügen

Womit wir beim Sündenregister von "Evil West" wären. Das ist nämlich länger, als es sein müsste, und Boss-Recycling ist nur die Spitze. Da wäre etwa der Controller-Support am PC, der ganz gerne einmal einfach aussetzt. Im Test wurden wir nicht nur einmal von einem Vampirwurm gefressen, weil Jessie einfach keine Eingaben aus dem Xbox-Controller mehr annehmen wollte. Das mag ein Einzelfall sein, ist aber am Testsystem so noch nie vorgekommen.

Die Grafik kann man dagegen als solide Mittelklasse bezeichnen, wenn man von Last-Gen-Konsolen ausgeht. Tatsächlich wirken vor allem die menschlichen Figuren so, als würden sie mit ihren viel zu großen Händen, den fleischigen Proportionen und der nach Plastik aussehenden Haut direkt der Unreal Engine 3 entsprungen sein. Ob dieser Look absichtlich in der eigentlich eingesetzten Unreal Engine 4 repliziert wurde, ist nicht ganz klar. Die Figuren und manche Textur erinnern tatsächlich eher an frühe "Gears of War"-Teile.

"Evil West" sieht an manchen Stellen aus, als käme die betagte Unreal Engine 3 zum Einsatz.
Foto: Screenshot Flying Wild Hog

Das ist aber weniger tragisch, als es klingt, denn in den Kämpfen liegt der Fokus weniger auf der Umgebungsgrafik als auf der blitzenden und krachenden Action, und die ist dank wirklich schöner Lichteffekte hervorragend inszeniert. Das liegt auch am wirklich gelungenen Gegnerdesign. Hier ist einige Kreativ-Power hineingeflossen, denn neben den üblichen fledermausähnlichen Supervampiren oder untoten Werwölfen gehen auch Elefanten-Schnecken-Hybride, Zombie-Bären oder stachelige Fabelwesen, die auch aus "Witcher 3" stammen könnten, auf Jessie los.

Die Trash-Experten

Das Entwicklerstudio Flying Wild Hog darf man durchaus als Experten für derartigen Edeltrash bezeichnen. So zeichneten sich die Warschauer bereits mit dem Reboot von "Shadow Warrior" und dessen beiden Nachfolgern aus. Vor allem der zweite Teil des Samurai-Shooters war ein Koop-Fest voll mit pubertärem Humor, grotesk überzeichneter Gewalt und starken "Borderlands"-Vibes. Viele dieser Tugenden stecken zum Glück auch in "Evil West". Das Spiel ist in jeder Hinsicht eine Zeitreise in die Vergangenheit, eine Zeit, als die Helden noch muskelbepackte Zyniker waren, die Kettensäge als effektive Waffe galt und die Gegner weniger mit Hirn als mit Größe beeindruckten.

Fazit: Ein schamloses Low-Budget-Fest zu einem hohen Preis

"Evil West" ist das perfekte Spiel für alle, die gerne schlechte Horrorfilme schauen, an billigen Sci-Fi-Western wie "Cowboys & Aliens" ihre Freude haben und darüber hinaus in den glorreichen Zeiten eines "Gears of War" sozialisiert wurden. Also vermutlich nur für mich.

Objektiv betrachtet ist "Evil West" ein Rückschritt: Das Leveldesign ist altbacken, Bosse, Gegner, Assets, ja ganze Spielsituationen werden schamlos dauerrecycelt, und in Wahrheit besteht jedes Level aus einer Abfolge von Kampfarenen, die es von Gegnern zu säubern gilt. Dazu kommen technische Probleme, unfertig wirkende Übergänge zwischen den Levels und eine Story aus dem Zufallsgenerator. Aber: Wo sonst kann man mit einer überladenen Elektrofaust auf schleimige Vampirmonster einprügeln, bis ihnen das Fell davonfliegt? Eben.

Im Pausenmenü erfahren wir mehr über den Hintergrund der Gegner, kaufen Skills und Upgrades.
Foto: Screenshot Flying Wild Hog

"Evil West" bedient wie schon "Shadow Warrior" aus demselben Hause ganz niedere Gelüste, und das ist gut so. Hirn ausschalten, Schrotflinte durchladen, Spaß haben. Wer einen ähnlich splatter- und trashaffinen Koop-Partner mitbringt, macht mit "Evil West" nichts falsch.

Bei der Preisgestaltung hat sich Publisher Focus Entertainment aber arg verschätzt. "Evil West" gehört mit seiner zehnstündigen Kampagne nicht in die 49,99- oder 59,99-Premium-Kategorie, sondern wäre im soliden 20-bis-30-Euro Bereich deutlich besser aufgehoben. So konkurriert es mit AAA-Titeln – und das ist "Evil West" sicher nicht. Es ist eher ein "Guilty Pleasure", das man sich im Sale gönnt, weil man am Wochenende ansonsten nichts zu tun hat. (Peter Zellinger, 25.11.2022)

Evil West kostet 49,99 für PC (Steam) sowie 59,99 Euro für Xbox One/Series X und Playstation 4/5.

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Ein Steam-Code für "Evil West" wurde dem STANDARD von Publisher Focus Entertainment zur Verfügung gestellt.