Für Ungarn – und im Besonderen für die Regierung von Premierminister Viktor Orbán – wird es im Streit um die Auszahlung von milliardenschweren Subventionen aus dem EU-Budget eng. Das Land könnte bis 2026 um insgesamt 12,7 Milliarden Euro umfallen. Das wären 7,5 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung eines Jahres – ein erheblicher Faktor für den Wohlstand der Ungarn.

Victor Orbán hat ein Problem. Geht es nach der EU-Kommission, sollen keine Gelder fließen, bis 17 Bedingungen der Kommission erfüllt sind. Ungarn ist der zweitgrößte Nettoempfänger der EU.
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Ungarn ist mit knapp zehn Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen in Relation zu Größe und Wirtschaftskraft anderer Mitgliedstaaten der größte Nettoempfänger von EU-Geldern. Rund fünf Milliarden Euro mehr als die Regierung in Budapest ins gemeinsame Budget einzahlt, fließen von Brüssel wieder zurück. Noch deutlich mehr bekommt nur Polen mit 40 Millionen Einwohnern.

Ausgerechnet diese beiden Staaten liefern sich mit den EU-Partnern und der Kommission in Brüssel seit vielen Jahren einen Streit um Verstöße gegen die EU-Charta, Grundrechtsverletzungen, Vertragsbrüche, Druck auf die unabhängige nationale Justiz, Knebelung von Meinungs- und Medienfreiheit.

Bündel von Maßnahmen

Hatte es zunächst "nur" Verfahren beim EU-Höchstgericht, kleinere Sanktionszahlungen wegen Vertragsverletzungen und ein Prüfverfahren über Stimmrechtsentzug gegeben, so verschärften die Kommissare rund um Präsidentin Ursula von der Leyen ab dem Frühjahr den Druck: Sie forderten Budapest auf, mit einem Bündel von Maßnahmen dafür zu sorgen, dass Korruption, Missbrauch von EU-Geldern und das Aushebeln einer unabhängigen Justiz beendet wird. Als Hebel diente der großzügig bemessene "Wiederaufbaufonds" zur Überwindung der Corona-Krise, aus dem Ungarn 5,2 Milliarden Euro lukrieren könnte.

Der für Budget und Personal verantwortliche Kommissar Johannes Hahn sorgte im Sommer – wie berichtet – dafür, dass vorläufig 7,5 Milliarden Euro aus drei regulären EU-Fördertöpfen nicht ausbezahlt werden. Von der Orbán-Regierung wurde verlangt, ganz konkrete gesetzliche und strukturelle Maßnahmen zu setzen, um EU-Rechtssicherheit in Ungarn zu garantieren. Diese lieferte bis zum Wochenende auch zahlreiche Vorschläge. Aber: Aus Sicht von der Leyens und Hahns reichen sie nicht aus – wie dem STANDARD in Kommissionskreisen nun bestätigt wurde. Gemeinsam mit Justizkommissar Didier Reynders beschlossen die beiden in Straßburg, dem Kollegium vorzuschlagen, dass die Auszahlungen für Ungarn bis auf weiteres eingefroren bleiben.

Kommenden Mittwoch wird die gesamte Kommission das mit Mehrheit beschließen. Dieser Vorschlag geht dann an den Finanzministerrat, der am 6. Dezember tagt und entscheiden muss, ob diese Maßnahme umgesetzt wird oder nicht. Eine Vetomöglichkeit gibt es dabei nicht, die qualifizierte Mehrheit der Staaten reicht.

Rechtliche Doppelmühle

So nahe an einer derart schmerzhaften Strafe war Ungarn in elf Jahren der Regentschaft Orbáns noch nie. Er spielte seit 2011 ein Katz-und-Maus-Spiel mit den EU-Partnern, "reparierte" eingemahnte Verstöße mit Maßnahmen, um mit neuen Verstößen und Vetodrohungen gleich wieder zu provozieren.

Sein Problem jetzt: Basis des Vorschlags ist eine rechtliche Doppelmühle, aus der man mit Trickserei und Bluff kaum herauskommt. Die Kommission beruft sich auf den vor zwei Jahren geprägten "Rechtsstaatlichkeitsmechanismus". Die EU-Staaten legten fest, die Budgets mit dem Wiederaufbaufonds um 800 Milliarden Euro aufzufetten. Staaten kriegen das Geld aber nur, wenn das Geld ordentlich verwendet wird, Behörden und freie Justiz für Einhaltung der EU-Regeln sorgen.

Hahn wandte dieses Prinzip direkt auf das reguläre Budget an, was dazu führt, dass für Ungarn 12,7 Milliarden Euro auf dem Spiel stehen. Rein formal gesehen werden Budapest diese Riesensummen nicht gestrichen. Die Kommission schlägt den Finanzministern sogar vor, die eingereichten Wiederaufbauprojekte und die 5,2 Milliarden Euro dafür zu genehmigen. Aber: Das Geld wird – so wie bei Polen – so lange nicht ausgezahlt, bis die Orbán-Regierung Taten gesetzt und insgesamt 17 Bedingungen der Kommission erfüllt hat.

Budapest auffallend zurückhaltend

Orbán hat es also selbst in der Hand, ob er auf das viele Geld verzichtet oder sich rechtsstaatlich wie ein korrektes EU-Mitglied verhält, das Regeln einhält. Das offizielle Budapest reagierte bisher jedenfalls auffallend zurückhaltend. EU-Chefverhandler Tibor Navracsics machte sogar gute Miene zum bösen Spiel und verkehrte die für Ungarn schlechten Neuigkeiten in ihr Gegenteil. "Ich habe eine gute Nachricht", verkündete er am Donnerstag vor einer Fachkonferenz in Budapest. "Wir werden die Vereinbarungen über Gelder aus den Kohäsions- und den Wiederaufbau-(Corona-)Fonds unterzeichnen können. Das wird dabei helfen, dass wir nächstes Jahr an die EU-Mittel kommen."

Navracsics, eine Art menschliches Gesicht des Orbán-Regimes, spielte darauf an, dass sein Land durch Nachbesserungen und Friststreckungen – also durch Spiel auf Zeit – theoretisch immer noch an die EU-Gelder kommen könnte. Zuletzt waren aus Budapest Signale gekommen, die auf eine mögliche Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz hindeuteten. Den Signalen folgten aber bisher weder offizielle Ankündigungen noch entsprechende Gesetzesentwürfe. "Die Erfüllung der (von der EU gestellten) Aufgaben zieht sich hinein ins nächste Jahr", meinte Navracsics weiter. "Ungarn ist ein loyaler, nützlicher und guter Nutzer der EU-Geldmittel."

Mit dieser Ansicht steht er allerdings in der Union zunehmend isoliert da. Der aus Orbáns Fidesz-Partei kommende Politiker war schon von 2010 bis 2014 stellvertretender Ministerpräsident und von 2014 bis 2019 EU-Kommissar. Mit seinem ruhigen und technokratischen Stil passte er nie so recht in das von lärmendem Populismus durchwirkte Milieu der Regierungspartei. Im Juni 2022 reaktivierte ihn Orbán für die immer heikler gewordenen EU-Verhandlungen, um der mitunter schrillen Justizministerin Judit Varga einen gesprächsfähigeren Sozius zur Seite zu stellen. (Thomas Mayer, Gregor Mayer, 24.11.2022)