Die Vorstellung von Männlichkeit spielt bei der Bubenarbeit des Vereins Poika eine essenzielle Rolle.

Foto: Philipp Leeb

Die 2.300-Seelen-Gemeinde Scharten in Oberösterreich vergangenen Sonntag. Was sich anhört, als wäre es Jahrzehnte her, sind Aussagen auf einer Kundgebung, die keine Woche alt sind: "Ein herzensguter Mensch, der tut keiner Fliege etwas zuleide", sagt eine Frau über Ex-Bürgermeister Jürgen Höckner. "Gegenüber Frauen ist er nie ungut aufgefallen, immer höflich, zuvorkommend, nett", fügt ein Herr über den wegen Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Verleumdung rechtskräftig Verurteilten hinzu. "Wer lässt sich dreimal vom selben Chef vergewaltigen? Und arbeitet noch drei Jahre mit dem Peiniger zusammen?", stellt eine Frau offen die Glaubwürdigkeit des Opfers infrage.

150 Menschen sind am Sonntag in Scharten zur Solidaritätskundgebung für Höckner zusammengekommen, 800 haben eine Petition unterschrieben, die ihn zu Unrecht verurteilt sieht. Dabei führt der Großteil der Anzeigen wegen Vergewaltigung nicht zu Schuldsprüchen: "Wenn es zu einer Verurteilung kommt, dann muss die Beweislast erdrückend sein", sagt Ursula Kussyk von der Frauenberatung Notruf bei sexueller Gewalt zum Sender FM4.

Auch Fortschritte

Beim Kampf gegen Gewalt an Frauen gab es zuletzt durchaus Fortschritte. Seltener – aber offenbar nicht selten genug – wurde Victim-Blaming betrieben, also dem Opfer die Schuld gegeben, Kleidung oder Verhalten von Frauen kommentiert. Gewalt gegen Frauen wird als strukturelles Problem thematisiert, viele Medien verzichten auf verharmlosende Begriffe wie "Familientragödie" oder "Eifersuchtsdrama". Und seit einem Jahr müssen sich Gefährder innerhalb von fünf Tagen nach einer Wegweisung bei einer Beratungsstelle melden. Dort müssen sie darüber reden, was passiert ist.

Von "passieren" möchte Christian Brickmann vom Verein Neustart in der Steiermark nicht sprechen. Der Verein bewältigt österreichweit den größten Teil der verpflichtenden Beratungen. "Unfälle 'passieren', bei Gewalt handelt es sich aber um Taten", sagt Brickmann dem STANDARD. "Gefährder setzen eine Handlung, das ist eine bewusste Entscheidung. Sie tragen die Verantwortung dafür."

Diese Taten, diese bewussten Entscheidungen von Männern, haben in diesem Jahr laut Zählung der Autonomen Frauenhäuser 28 Frauen ihr Leben gekostet (siehe Chronologie). In 25 weiteren Fällen verübten Männer schwere körperliche Gewalt – dass ihre Partnerinnen oder Ex-Partnerinnen überlebt haben, war oft nur Glück. Im Vorjahr wurden 22.039 Opfer familiärer Gewalt von den Gewaltschutzzentren und Interventionsstellen betreut. Davon waren 81 Prozent weiblich, 90 Prozent der Gefährder waren männlich. Die Zahl der von der Polizei verhängten Betretungsverbote ist gestiegen, von rund 11.500 im Jahr 2020 auf 13.690. Von 2014 bis 2019 lag der Durchschnitt der Wegweisungen bei 8.490.

Zwei bis drei getötete Frauen monatlich

Seit 2014 stieg die Zahl der getöteten Frauen kontinuierlich an, auf 41 im Jahr 2018. Inzwischen hat sie sich auf einem hohen Level eingependelt: Bei etwa zwei bis drei "Femiziden" pro Monat, also Tötungen von Frauen aufgrund ihres Geschlechts.

Seit Herbst 2021 sind nach einer Wegweisung sechs Stunden Beratung verpflichtend. Diese einfach nur abzusitzen geht nicht, sagt Sozialarbeiter Brickmann. Das Gesetz sieht vor, dass die Gefährder aktiv mitarbeiten und sich mit den Hintergründen ihrer Tat befassen müssen. Die Beraterinnen und Berater müssten melden, wenn der Termin nur pro forma wahrgenommen wird – und dann könne es eine Strafe geben.

"Bei einer sehr lang andauernden Gewaltbeziehung können wir in sechs Stunden Beratung keine Wunder bewirken."

Christian Brickmann vom Verein Neustart

Besonders wirksam sieht Brickmann die Beratung bei Menschen, die das erste Mal gewalttätig waren. Diese würden oft sagen, dass sie das selbst nicht wollten, und seien froh über das Angebot. "Bei einer sehr lang andauernden Gewaltbeziehung können wir in sechs Stunden Beratung aber keine Wunder bewirken", gibt er zu bedenken. In diesen Fällen sei es wichtig, zu weiterer Betreuung zu motivieren, etwa bei Partnereinrichtungen oder im Rahmen von Psychotherapie. Dort könnten sie längerfristig an den Ursachen und der Dynamik arbeiten.

Was ist Gewalt?

Die Frage, warum Männer Gewalt gegen Frauen ausüben, beantworten sie in der Beratung oft mit Überforderung. Viele spielten die Gewalt herunter, sagt Brickmann. Ein wesentlicher Aspekt der Beratungen ist daher, verschiedene Formen von Gewalt zu besprechen. Stalking, ökonomische Gewalt, etwa gezielt Abhängigkeitsverhältnisse in einer Beziehung aufrechterhalten, sexualisierte Gewalt oder psychische Gewalt. Denn nur, wer Gewalt erkennt, kann überhaupt etwas dagegen tun.

Doch selbst die offensichtlichste Form von Gewalt, die physische Gewalt, wird gerechtfertigt – auch von jungen Männern, mit denen Philipp Leeb vom Verein Poika, der gendersensible Arbeit mit Burschen anbietet, arbeitet. In Workshops erzählen sie von Gewalt, die sie erfahren haben, und davon, welches gewaltaffine Verhalten sie an sich beobachten. Oft legitimierten sie selbst erlebte Gewalt, sagt Leeb. Sie sei zwar "nicht in Ordnung", aber im Endeffekt hätten sie es "verdient". In Workshops werden auch Beispiele besprochen, was sie für "normal" und was für Gewalt halten.

"Männer wachsen in einem Umfeld auf, das ihnen immer wieder zuflüstert, dass sie die Mächtigen sind."

Philipp Leeb vom Verein Poika

Die unterschiedlichen Formen von Gewalt durchziehen noch immer die Lebenswelten vieler junger Burschen, sagt Leeb. Während Buben noch immer vom Vater wegen schlechter Noten geschlagen werden, sind neue Formen der Gewalt hinzugekommen – etwa das Mitfilmen von Gewalt und das Verbreiten dieser Bilder. Auch Gewalt gegen Frauen sei ständig präsent, etwa wenn "sich Typen nicht zu blöd sind, ein Fenster runterzukurbeln und aus dem Auto eine Frau blöd anzusprechen". Femizide seien nur die Spitze des Eisbergs, sagt Leeb. Das dahinterliegende Problem sei ein Umfeld, das Männern "immer wieder zuflüstert, dass wir die Mächtigen sind".

Das zeigte sich auch im Fall des Ex-Bürgermeisters von Scharten. Die Vorwürfe waren längst bekannt, als Jürgen Höckner 2021 wiedergewählt wurde. Rund ein Jahr nach dem erstinstanzlichen Urteil und wenige Tage bevor der Oberste Gerichtshof den Schuldspruch bestätigte, wurde Höckner für seine Tätigkeit als Obmann eines Regionalverbands vom Land Oberösterreich geehrt. (Beate Hausbichler, Noura Maan, 25.11.2022)