ORF-Leistungen von Landesstudios bis Kultur und Produktion stünden "auf dem Spiel", schreibt ORF-General Roland Weißmann seinen Stiftungsräten.

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Wien – ORF-Generaldirektor Roland Weißmann sieht den ORF "ab 2024 vor einer der größten Finanzierungskrisen in seiner Geschichte". Den Stiftungsräten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks schreibt Weißmann wörtlich: Der ORF "kann auf Basis des bestehenden Finanzierungsmodells sein umfangreiches Leistungsangebot nicht uneingeschränkt fortschreiben, die Finanzierung der gesetzlichen Aufträge ist dadurch nicht mehr garantiert".

Neues GIS-Modell: Höhe "entscheidend"

Der ORF-General hofft nun offenbar auf ein neues, 2023 zu beschließendes Finanzierungsmodell mit höheren öffentlichen Beiträgen als den für das laufende Jahr budgetierten rund 660 Millionen Euro aus der GIS. Diskutiert wird über eine um Streaming erweiterte GIS, über eine Haushaltsabgabe oder eine Budgetfinanzierung des ORF. Deren Höhe sei "entscheidend" dafür, welche Leistungen der ORF künftig finanzieren könne.

Dramatische Prognose

Die dramatische Perspektive erklärt der ORF-Generaldirektor in dem Schreiben insbesondere mit der extremen Teuerung, explodierenden Energiekosten, Rückgängen bei Werbeerlösen und steigenden GIS-Abmeldungen.

Weißmann schreibt: "Trotz aller Einsparungs- und Restrukturierungsmaßnahmen der vergangenen Jahre und ihrer konsequenten Fortsetzung steht vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen die Fortführung der Leistungen des ORF für die Allgemeinheit in ihrer derzeitigen Form und Relevanz infrage."

130 Millionen Euro Verlust sollen drohen

Der ORF-Generaldirektor legte den Stiftungsrätinnen und Stiftungsräten des ORF nach STANDARD-Informationen eine mittelfristige Finanzvorschau für Österreichs größten Medienkonzern vor. Sie soll nach Informationen aus dem obersten ORF-Gremium für 2024 schon bis zu 70 Millionen Euro Verlust prognostizieren, für 2025 90 Millionen und für 2026 rund 130 Millionen Euro. Dieses Szenario basiert auf einer Fortschreibung der aktuellen Inflation, der Energiekosten und der Abmeldungen von der GIS; auch laufende Sparmaßnahmen – nach früheren Angaben rund 35 bis 40 Millionen Euro pro Jahr) wurden in dem Szenario fortgeschrieben.

Der ORF nimmt derzeit mit Gebühren etwas mehr als eine Milliarde Euro ein und ist damit Österreichs weitaus größter Medienkonzern, mehr als doppelt so groß wie die größten privaten Medienhäuser. Sie sind ebenfalls mit gewaltigen Preissteigerungen etwa für Energie und Papier sowie rückläufigen Werbebuchungen konfrontiert; der ORF erhält pro Jahr rund 660 Millionen Euro aus GIS-Gebühren.

GIS-Erhöhung reicht nicht

Die jüngste GIS-Gebührenerhöhung im Februar 2022 reiche angesichts der extremen Teuerung nicht für die nächsten fünf Jahre, für die sie ursprünglich kalkuliert war. Die acht Prozent über fünf Jahre ergäben 1,55 Prozent Teuerungsausgleich pro Jahr. Mit den vom Wifo im Oktober prognostizierten 8,3 Prozent Teuerung für 2022 liege die Inflation bereits im ersten Jahr über der jüngsten GIS-Anpassung.

325 Millionen Mehrkosten 2024 bis 2026

Die mittelfristige Finanzvorschau soll für die Jahre 2024 bis 2026 von um 325 Millionen Euro höheren Kosten als im Gebührenantrag kalkuliert ausgehen. Die Teuerung soll nach STANDARD-Infos rund 136 Millionen davon ausmachen, die Energiekosten hätten sich verfünffacht. Und der ORF prognostiziert in der Finanzvorschau auf der Basis aktueller Abmeldungen rund 90 Millionen Euro weniger GIS-Einnahmen.

Bis 2024 aber muss der Gesetzgeber ein neues öffentliches Finanzierungsmodell für den ORF in Kraft gesetzt haben: Der Verfassungsgerichtshof hebt die bisherige GIS-Regelung mit Ende 2023 als verfassungswidrig auf, weil für eine wesentliche Nutzungsmöglichkeit wie Streaming bisher keine GIS anfällt.

720 öffentliche Millionen

Bis März 2023 brauche der ORF eine Festlegung des Gesetzgebers, um ein neues Modell rechtzeitig umzusetzen, schreibt Weißmann in dem Brief an die Stiftungsräte. Im Medienministerium sei man sich der Dringlichkeit bewusst. "Entscheidend für den Leistungsumfang (des ORF in Zukunft, Anm.) ist aber natürlich auch die Höhe einer künftigen Finanzierung."

Nach STANDARD-Infos aus dem Stiftungsrat wären nach den ORF-Berechnungen mehr als 700 Millionen Euro öffentliche Finanzierung – kolportiert werden 720 Millionen – pro Jahr nötig, um die dramatischen Verlustszenarien der Finanzvorschau abzuwenden.

160 Millionen extra unter Sparbedingungen nach Finanzkrise 2010

Die Republik hat dem ORF schon mit extra Geld aus einer schweren Finanzkrise geholfen: 2008 schloss der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit 104 Millionen Euro Verlust ab. 2009 mit knapp 80 Millionen Euro Minus.

Die Regierung von SPÖ und ÖVP galt dem ORF damals befristet über vier Jahre von 2010 bis 2013 einen Teil der Mittel ab, die er durch Gebührenbefreiungen aus sozialen Gründen nicht einhebt: zweimal 50 und zweimal 30 Millionen Euro pro Jahr, in Summe 160 Millionen Euro.

Die Regierung verband diesen Zuschuss mit Vorgaben für Einsparungen bei den Beschäftigten und den Personalkosten pro Kopf. Die Vorgaben drängten zu Sparmaßnahmen, auf die Weißmann auch in seinem Brief als historische Erfolge verweist: Seit 2007 habe der ORF rund 900 Vollzeitjobs eingespart, mehr als ein Fünftel seiner Belegschaft, schreibt der ORF-General.

Sparmaßnahmen

Der vom Stiftungsrat geforderte nachhaltige Einsparungskurs der vergangenen Jahre werde "konsequent fortgesetzt", heißt es in dem Brief unter Verweis auf die Personalmaßnahmen. Und: Allein seit 2016 habe das Unternehmen fast 150 Millionen Euro eingespart. Das GIS-Programmentgelt sei schon seit 30 Jahren unter der Inflationsrate geblieben.

2022 und 2023 mit Einmalmaßnahmen ausgeglichen

2022 und 2023 könne der ORF "unter sehr großen Anstrengungen" ausgeglichen bilanzieren, betont Weißmann in seinem Brief an die Stiftungsräte. Kommenden Donnerstag stimmen sie über den Finanzplan 2023 – quasi das Budget des ORF für das kommende Jahr – ab.

Der ORF habe die Beiträge zur Pensionskasse ausgesetzt, eine "moderate Lohnrunde" ausverhandelt, Sachkosten reduziert, Energie eingespart, Kosten von Produktions- und Lieferverträgen verringert.

2023 ziehe der ORF neben nachhaltigen Einsparungen alle möglichen Register einmaliger Maßnahmen – neben der Pensionskasse etwa Wertpapiererträge, er streiche variable Produktionskostenbudgets und zentrale Budgetpositionen. Ab 2024 sei dieses Repertoire nicht einfach zu wiederholen, sagen Menschen mit Einblick in die ORF-Finanzen.

Mehr Geld oder weniger Leistungen: "All das steht auf dem Spiel"

"Auf Basis des bestehenden Finanzierungsmodells kann der ORF sein umfangreiches Leistungsangebot in seiner derzeitigen Form nicht aufrechterhalten", warnt Weißmann. Mit dem Hinweis "All das steht in seiner aktuellen Form gerade auf dem Spiel" listet der ORF-General etwa auf:

  • In österreichisches Kunst- und Kulturschaffen investiere der ORF rund 120 Millionen Euro.
  • Er verweist auf Investitionen in "Premium-Sport sowie Rand- und Breitensport". Der ORF sei größter Auftraggeber der österreichischen Film- und TV-Wirtschaft mit rund 100 Millionen Euro pro Jahr. 2021 habe der ORF rund 500 Produktionen beauftragt, hergestellt oder koproduziert.
  • Rund 170 Millionen Euro pro Jahr investiere der ORF in seine Landesstudios und regionale Berichterstattung.
  • Weißmann verweist auf Religion und Ethik im ORF-Angebot, auf barrierefreien Zugang, auf Spendenaktionen wie "Nachbar in Not".
  • Der ORF sei zudem "zentraler Motor" für den Werbemarkt, erklärt Weißmann in seiner Leistungsschau.
  • Der ORF erreiche täglich 6,4 Millionen Menschen über seine Medien, er sei "Kitt der Gesellschaft", schreibt Weißmann, und leiste einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis von Demokratie und Gesellschaft in Österreich.

Der ORF wolle das weiter leisten, dafür brauche er aber "eine ausreichende und nachhaltige Finanzierung", argumentiert Weißmann in seinem Schreiben an die Stiftungsräte. Viele der hier adressierten Interessen und ihre Vertreter mobilisiert der ORF traditionell, wenn es um Gebührenerhöhungen oder andere öffentliche Finanzierungsfragen geht.

Produktionsbranche macht mobil

Schon am Donnerstag war der ORF-Beitrag zur Produktions- und Kreativwirtschaft zeitgerecht Thema im ORF-Publiumsrat. Andreas Kamm, geschäftsführender Gesellschafter des Produktionsriesen MR Film und Vorsitzender der Berufsgruppe Fernsehfilm, versicherte dem ORF und seinem Generaldirektor Weißmann etwa: "Wir werden immer für einen starken ORF kämpfen" – und für seine Finanzierung. Denn: "Wir sitzen mit dem ORF und mit dem Publikum in einem Boot." Und: "Die österreichische Produzentenlandschaft lebt und stirbt mit dem ORF." (fid, 25.11.2022)