Stefan Weiss' Buchtipp analysiert mit sensiblem und mehrdimensionalen Zugang die Migrationsgesellschaft.

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Ich habe gekündigt. Ich nehme mein ganzes Erspartes – $ 9021 –, und wenn es aufgebraucht ist, bringe ich mich um." Einen Satz wie diesen schleudert einem JJ Bola gleich zu Beginn seines Romans Weiter atmen ungerührt entgegen. Fortan fiebert man mit dem Protagonisten Michael Kabongo, einem depressiven Lehrer, der sein Leben in London hinter sich lässt, um auf eine letzte Reise durch die USA zu gehen, dessen selbstgewähltem Ende entgegen. Mit jeder flüchtigen Begegnung aber, der er sich aussetzt, wird deutlicher: Es könnte Michael doch gelingen, seine inneren und äußeren Dämonen zu besiegen und ins Leben zurückzufinden. Auf dem Weg dahin muss er zuerst Frieden mit sich selbst und seiner Vergangenheit schließen.

Sozialarbeiter und Schriftsteller

JJ Bola, "Weiter atmen". € 24,00 / 332 Seiten. Kampa-Verlag, 2021
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JJ Bola weiß, wovon er schreibt. 1986 in Kinshasa im Kongo geboren, flüchtete er im Alter von sechs Jahren mit seinen Eltern nach London. Als Jugendlicher litt er an Depressionen, später, parallel zu ersten schriftstellerischen Veröffentlichungen, arbeitete er als Sozialarbeiter und betreute junge Menschen, denen es wie ihm damals ging. Seine Erfahrungen goss Bola 2020 in den Sachbuch-Bestseller Sei kein Mann: Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist (Hanser). Darin wirbt er für eine Gesellschaft, die jungen Männern Vorbilder und Hilfe anbietet, bevor sie ins toxische Fahrwasser der Aggression abgleiten.

Ein vollständiges Bild

In Weiter atmen schildert Bola, wie das Fehlen von Vätern und männlichen Bezugspersonen, die ein antipatriarchales Rollenbild vorleben, gerade bei Angehörigen aus migrantischen, oft entwurzelten Communitys Kränkungen nährt, Depression und Aggression hervorbringt. Zu den Stärken von Bolas scharfsinniger Analyse der Migrationsgesellschaft gehört, dass er dabei kein eindimensionales, auf Rassismus reduziertes Erklärungsmuster anbietet, sondern am ganzen Bild interessiert ist.

Als Literatur (Bola hat auch Lyrikbände und einen weiteren Roman veröffentlicht) liest sich das psychologisch packend, als Sozialstudien gehörten Bolas Bücher ins Regal jedes Politikers, der das Thema Migration jenseits von Populismus und Schönfärberei ehrlich anpacken will. (Stefan Weiss, 03.12.2022)