Wir starten den Timer und machen uns auf den Weg: eine Minute zum Supermarkt, zwei Minuten in den Park und sieben Minuten mit dem Fahrrad ins Büro. Daniel Koller lebt im fünften Bezirk und in der sogenannten 15-Minuten-Stadt, ein Konzept der Stadtplanung, die das Auto überflüssig macht. Alles, was Koller täglich braucht, erreicht er in weniger als einer Viertelstunde zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Dazu zählen außerdem sein Hausarzt, die nächste U-Bahn-Station, und auch Schulen und Kindergärten gibt es in seiner Umgebung.

Grätzelspaziergang mit Daniel Koller im fünften Bezirk: "Ich komme ursprünglich aus dem 21. Bezirk, und zwar aus einer Gegend, in der eigentlich nichts ist und in der man fast nichts zu Fuß machen kann und für alles irgendwo hinfahren muss. Ich kenne also beide Realitäten. Jetzt, im fünften Bezirk, habe ich quasi das Gegenteil ausgewählt und lebe in der idealen 15-Minuten-Stadt. Alles ist hier in Gehweite: der Park, mein Arzt, die U-Bahn, Supermärkte, Post, Bankomat, Apotheke, Fahrradwerkstatt, Friseur usw. Gerade für junge Menschen ist es, glaube ich, schon wichtig, alles um sich herum zu haben. Wenn ich später einmal Kinder habe, kann ich mir aber nicht vorstellen, sie hier großzuziehen. Vielleicht würde ich dann wieder zurückgehen nach Floridsdorf. Da wäre mir dann mehr Natur wahrscheinlich wichtiger, als alles in der Nähe zu haben. Der fünfte Bezirk ist ja dafür bekannt, dass es hier wenig Grün gibt. Das ist leider schon so, man muss sich die grünen Inseln ein bisschen suchen. Für mich passt es, aber einen Hund würde ich hier zum Beispiel nicht halten. Ich erledige 90 Prozent meiner Wege mit dem Fahrrad. Ich finde aber, dass Radfahren in Wien leider extrem gefährlich ist. Die Radwege sollten strenger von den Fahrspuren der Autos getrennt sein, dann würden sich auch mehr Menschen trauen, mit dem Rad zu fahren."
Foto: Redl

Das kennt auch Marlene Rammel, sie wohnt im dritten Bezirk und geht nur zehn Minuten zu Fuß in die Arbeit, in einer Minute ist sie bei der U-Bahn-Station, in fünf bei der Post und der Apotheke, in vier beim Bankomaten und beim Bäcker.

Grätzelspaziergang mit Marlene Rammel im dritten Bezirk: "Ich wohne seit acht Jahren hier im selben Haus. Dass mein aktueller Arbeitsplatz so nah ist, hat sich durch Zufall ergeben – zu Fuß brauche ich nur zehn Minuten. Hier gibt es einerseits coole Lokale, viele Geschäfte, aber auch eine große Grünfläche – den Prater. Dort fahre ich mit dem Rad hin, mache meine Laufrunden, und dort spiele ich auch Tennis. Weil das alles möglich ist, mag ich das Grätzel so gern. Und weil ich die Leute hier schon kenne, es ist fast ein bisschen wie auf dem Land. Auch zum Rochusmarkt sind es zu Fuß nur zehn Minuten. Das Einzige, was hier noch verbessert werden sollte, sind die Radwege. Vor allem auf der Landstraßer Hauptstraße ist es wirklich gefährlich, wir wundern uns oft, dass uns dort noch nichts passiert ist – etwa wenn eine Autotür schnell aufgerissen wird. Wir selbst haben zwar ein Auto, das nutzen wir aber nur am Wochenende, um aufs Land zu fahren."
Foto: Christian Fischer

Doch ist Wien tatsächlich schon eine 15-Minuten-Stadt? Oder gibt es Verbesserungsbedarf? Und wenn ja, wo? DER STANDARD ist diesen Fragen nachgegangen. Expertinnen ordnen ein, Zahlen und Daten zu den unterschiedlichen Orten, die zum täglichen Leben gehören, zeigen, wie gut die Erreichbarkeit in Wien bereits ist, und die Wiener erzählen uns von ihren Wegen durch die Stadt.

Etwa Romana Wedgbury. Sie lebt mit ihrer Familie am Wilhelminenberg. Und auch wenn es dort schön grün ist und sie sich ihren Wohnort selbst ausgesucht hat, ärgert sie sich über die schlechte Öffi-Anbindung im Grätzel. In ihre Gegend fährt nur der Rufbus 44B, der acht Plätze hat und vor allem um die Mittagszeit meist heillos überfüllt ist.

Romana Wedgbury wohnt im 16. Bezirk: "Wir wohnen am Wilhelminenberg, und zwar auf der Seite, auf der nur ein Rufbus fährt. Ein Supermarkt und eine Apotheke sind von uns daheim einen Kilometer entfernt. Restaurants oder Kaffeehäuser gibt es bei uns in der Nähe nicht. Die Volksschule meines Sohnes, die wir uns leider nicht aussuchen konnten, ist 2,7 Kilometer entfernt. Noch dazu geht es auf dem Schulweg am Rückweg steil bergauf. Morgens bringe ich ihn hin, und mittags hole ich ihn wieder ab. Der Rufbus ist leider oft stark überfüllt, also gehe ich an vielen Tagen die Strecke zweimal zu Fuß. Wir haben kein Auto und wollen auch keines. Aber seit mein Sohn in die Schule geht, denke ich mir oft, dass wir eigentlich eines bräuchten. Ohne geht es hier am Wilhelminenberg fast nicht. Auch das Zufußgehen ist nicht sehr attraktiv, hier gibt es meist nicht einmal Gehsteige. Zum nächsten öffentlichen Spielplatz sind es zu Fuß von uns daheim etwa 20 Minuten. Zum Glück ist bei uns ums Eck ein Gemeindebau, in dem es auch Spielplätze gibt, die wir oft nutzen. Wir haben schon überlegt, ob wir wegziehen sollen, aber hier ist es einfach so schön grün, und deshalb bleiben wir. Dafür nehme ich viel in Kauf."
Foto: Heribert Corn

Auch Gabriele Gaupmann, die im 22. Bezirk zu Hause ist, vermisst in ihrer Wohnumgebung einige Dinge. Im Stadtentwicklungsgebiet Raffenstättergasse gibt es noch keinen Park, keinen Spielplatz, und auch eine Hundezone fehlt den Bewohnerinnen. Doch am dringendsten wünschen sich Gaupmann und ihre Nachbarn einen Fußgängerweg über die angrenzende Bahntrasse der ÖBB, auf deren anderer Seite der Gewerbepark Stadlau liegt – nur etwa 100 Meter Luftlinie entfernt. "Leider fahren viele Menschen mit dem Auto dorthin, weil man zu Fuß einen Umweg gehen muss", erzählt Gaupmann.

Manches, etwa ein Park oder ein Spielplatz, soll noch kommen, eine Fußgängerüber- oder -unterführung wird es laut offiziellen Stellen aber wohl niemals geben – die Kosten wären zu hoch. Dabei wären es gerade kurze Wege wie dieser, die eine Stadt zur 15-Minuten-Stadt machen.

Grätzelspaziergang mit Gabriele Gaupmann im 22. Bezirk: "Unser Viertel liegt direkt neben dem Gewerbepark Stadlau, es wäre von der Luftlinie her nur ein Katzensprung. Aber leider sind Bahngleise der ÖBB dazwischen, und deshalb muss man außen herumgehen, wenn man zu Fuß hinüberwill. Das dauert etwa zehn bis 15 Minuten, allerdings muss man an stark befahrenen Straßen entlanggehen, es ist kein schöner Weg. Ich fahre immer mit den Öffis, ich habe gar kein Auto. Aber ich weiß, dass viele meiner Nachbarn sogar in den Gewerbepark mit dem Auto fahren. Oder auch zum Arzt – in ein Ärztezentrum an der Stadlauer Straße. Hier gibt es keinen praktischen Arzt in unmittelbarer Nähe, nur einen Kinderarzt. Und auch wenn man sich hier auf ein Bankerl im Grünen setzen will, muss man sehr weit gehen oder fahren. Bankerln gibt es viel zu wenige, nur ein paar in den Wohnhausanlagen. Dabei würden sich die älteren Herrschaften manchmal gerne treffen und ein bisschen plaudern, aber sie wissen nicht, wo. Den jungen Familien fehlt außerdem ein öffentlicher Spielplatz. Auch wenn das in Zukunft noch kommen soll, ist das jetzt im Moment kein großer Trost. Die Hundebesitzer wünschen sich außerdem eine Hundezone. Man merkt, dass die Gegend hier sehr aufs Autofahren ausgelegt ist. Es gibt auch wenig Mistkübel und nur einen Sackerl-fürs-Gackerl-Spender."
Foto: Regine Hendrich

Überall in einer Viertelstunde

Die ideale 15-Minuten-Stadt ist für die Menschen ausgelegt: Sie sind vermehrt im öffentlichen Raum unterwegs, legen ihre Wege mit dem Rad oder zu Fuß zurück, und die Grätzel sowie der soziale Zusammenhalt werden gestärkt. Das Auto wird nicht mehr gebraucht, was dem Klima und der Lebensqualität in Städten zugutekommt. Entwickelt hat das Konzept der französisch-kolumbianische Stadtexperte Carlos Moreno, Professor an der Pariser Sorbonne. Viele Menschen seien der Meinung, sagt Moreno, mit dem Auto in der Stadt Zeit zu sparen. In Wahrheit aber gehe viel Zeit verloren, um zu pendeln, im Stau zu stehen oder ins Shoppingcenter zu fahren. Moreno nennt das eine illusorische Beschleunigung.

Auch Wien hat sich zum Ziel gesetzt, eine Stadt der kurzen Wege zu werden. "Mit lebendigen, gemischt genutzten Stadtteilen und einer Neuverteilung des öffentlichen Straßenraums zugunsten von aktiver Mobilität, Öffis und attraktiven Verweilmöglichkeiten" wolle man die 15-Minuten-Stadt fördern, heißt es in der "Smart Klima City Strategie", und auch die Neos fordern aktuell eine von ihnen sogenannte Wiener Viertelstunde.

In vielen Teilen der Stadt ist das Konzept heute schon Realität. Rund 48 Prozent der Wienerinnen und Wiener gehen bei Einkäufen und Besorgungen hauptsächlich zu Fuß, lautet etwa ein Ergebnis der Wiener Lebensqualitätsstudie 2018.

Leben Sie schon in der 15-Minuten-Stadt?

Park- und Grünanlagen

31 Prozent der Fläche des Bundeslandes Wien sind öffentlich zugängliche Grünflächen. Zwei Drittel aller Wienerinnen und Wiener wohnen laut Angaben der Stadt weniger als 250 Meter von der nächsten öffentlichen Grünfläche entfernt. In Zukunft, so sieht es das Fachkonzept Grün- und Freiraum vor, soll diese Erreichbarkeit für alle Menschen in der Stadt gelten. Hier müsste dennoch mehr getan und entsiegelt werden, fordert etwa die Stadtforscherin Cornelia Dlabaja: "In den Vierteln der Gründerzeit gibt es zu wenig Parks. Es klingt radikal, aber wir sollten schleunigst etwa den Gürtel und den Ring großzügig in Grünflächen umwandeln, andernfalls wird die Hitze in der Stadt in wenigen Jahren unerträglich sein."

Schulen

Rund 700 öffentliche und private Schulen gibt es in ganz Wien. Obwohl die Dichte hoch ist, gibt es auch in Wien Schulwege, die vergleichsweise lang sind. So berichtet etwa Romana Wedgbury, dass sie mit ihrem Sohn in die Volksschule, die die Familie sich nicht aussuchen durfte, von ihrem Zuhause am Wilhelminenberg aus 2,7 Kilometer weit gehen muss. Durch die Anbindung nur mit dem Rufbus ist der Weg öffentlich kaum zu meistern. Noch dazu geht es steil bergauf bzw. bergab. "Ohne Auto geht es hier am Wilhelminenberg eigentlich nicht", sagt sie.

Medizinische Versorgung

44 Krankenanstalten gab es im Jahr 2020 in Wien. Hinzu kommen laut Ärztekammer pro 1.000 Einwohner 6,75 Medizinerinnen. Allerdings bedeutet diese Zahl nicht automatisch, dass die Wiener medizinisch gut versorgt sind – denn der Anteil der Kassenärztinnen lag im Jahr 2021 in Wien bei nur 15 Prozent. So waren Anfang des Jahres etwa von 90 Kinderarzt-Kassenstellen 15 unbesetzt. Hier müssen die Wienerinnen oft weite Wege durch die Stadt zurücklegen.

Der Weg in die Arbeit

Ob der Weg in die Arbeit auch zur Definition der 15-Minuten-Stadt gehört, ist umstritten. Einige Wiener haben tatsächlich einen sehr kurzen Arbeitsweg. Sieben Prozent der Wienerinnen arbeiten an ihrem Wohnsitz, zwölf Prozent im Wohnbezirk und 19 Prozent in einem Nachbarbezirk. Der Rest fährt in einen anderen Bezirk oder aus der Stadt hinaus. Vor allem in den inneren Bezirken haben die Menschen kurze Arbeitswege. Das ist wenig verwunderlich, da sich dort auch die meisten Büros befinden.

Für die 15-Minuten-Stadt sind kurze Arbeitswege allerdings auch nicht zwangsweise erforderlich, findet Dlabaja: "Wenn die Öffi-Station nahe ist, von der aus man in die Arbeit kommt, zählt das meiner Meinung nach auch."

Öffentliche Verkehrsmittel

Laut Angaben der Wiener Linien müssen 98 Prozent der Wiener nicht weiter als 300 Meter bis zur nächsten Haltestelle gehen. Vor allem in den Außenbezirken ist die Versorgung aber weniger gut. Laut einer Untersuchung der Arbeiterkammer Wien aus dem Jahr 2019 liegt die Versorgungsdichte mit Haltestellen in den Innenbezirken bei 17 Haltestellen pro Quadratkilometer, während es in den Außenbezirken auf der gleichen Fläche nur sieben Haltestellen sind.

Die TU Wien hat in einer Studie Grätzel ausfindig gemacht, in denen es signifikante Lücken gibt, was die Öffi-Dichte anbelangt, dazu gehören etwa Grinzing, Pötzleinsdorf, Dornbach, Hütteldorf, Nußberg-Kahlenbergerdorf, die Hohe Warte oder auch der Wilhelminenberg, also jenes Gebiet, in dem auch Wedgbury zu Hause ist. Dennoch, so heißt es in der TU-Studie, liege Wien mit seinem guten Öffi-Angebot im internationalen Spitzenfeld.

Der Kurze Weg liegt in einer Kleingartensiedlung in Wien-Donaustadt – inmitten des Stadtentwicklungsgebiets Raffenstättergasse. Die Menschen, die dort schon eingezogen sind, kritisieren, dass ihre Wege teils alles andere als kurz sind – vieles ist im Grätzel noch für das Auto ausgelegt.
Foto: Regine Hendrich

Wer sehen will, wie die 15-Minuten-Stadt im Idealfall funktioniert, wird in der Seestadt Aspern fündig. Dort ist wenig Verkehr, die Dinge des täglichen Bedarfs sind zu Fuß erreichbar, und mit der U2 ist das Stadtentwicklungsgebiet gut angebunden. Ein Erfolgsrezept des Standorts ist auch, dass der öffentliche Raum attraktiv für Fußgängerinnen gestaltet ist. Die Straßen und Wege sind barrierefrei, die Erdgeschoßzonen sind belebt, und die Grünflächen, auch jene, die zu Wohnbauten gehören, sind einladend für alle.

Stadtforscherin Dlabaja kritisiert nur, dass auch rund um die Seestadt – wie in Wiens Außenbezirken sehr oft – die Querverbindungen des öffentlichen Verkehrs fehlen: "Wir leben in einer Stadt, die aus vielen 15-Minuten-Quartieren besteht, die teilweise schlecht miteinander verbunden sind. Vor allem die Fahrradinfrastruktur müssten wir ausbauen", lautet ihr Fazit.

Cornelia Dlabaja ist Stadtforscherin und Expertin für die Seestadt, in der sie selbst auch schon gelebt hat.
Foto: Luiza Puiu

Ein Grätzel mit Verbesserungspotenzial liegt direkt neben der Seestadt. Wer in Richtung Zentrum des alten Aspern spaziert, findet sich auf dem Enzianweg wieder, wo sich Ein- an Zweifamilienhäuser reihen, Gehsteige fehlen und vor jedem Haus ein Auto parkt. Die 15-Minuten-Stadt scheint in weiter Ferne, denn die Wege zum Supermarkt sind lang, ebenso wie jene zur nächsten Schule. Weit und breit sind keine Sitzbänke vorhanden, obwohl manche Plätze sich ideal dafür anbieten würden. "Ein paar Bänke, autofreie Zonen und ein Selbstbedienungsautomat mit frischen Lebensmitteln könnten hier schon dazu führen, dass die Menschen den öffentlichen Raum in ihrer Umgebung mehr nutzen", sagt Dlabaja – und das wiederum ist der erste Schritt, der ein Grätzel belebt und ihm die Chance gibt, Teil einer echten 15-Minuten-Stadt zu werden. (Bernadette Redl, 3.12.2022)