Manche Themen lässt man lieber aus, zu manchen Themen gibt es eine Art kollektives Schweigen. Eine Tabuisierung kann jedoch einem guten Zusammenleben im Weg stehen. Die Edition Zukunft hat deshalb sieben Gesprächsthemen gesammelt, bei denen Offenheit zu mehr Verständnis füreinander führen könnte. Wir sind der Meinung: Wenn öfter und selbstverständlicher darüber gesprochen würde, ginge es allen besser.

Illustration: Oana Rotariu

Geschlechterrollen: Sie sind nicht mehr zeitgemäß

Nur ein Prozent der Väter geht in Österreich länger als sechs Monate in Karenz. Bei acht von zehn Paaren bezieht der Vater überhaupt nie Kinderbetreuungsgeld. Das zeigt das Wiedereinstiegsmonitoring 2021 der Arbeiterkammer. Diese Zahlen sind zwar signifikant für die Geschlechterrollen in Österreich, trotzdem, so betont Caroline Berghammer, Soziologin an der Uni Wien, macht die Karenz nur eine kurze Phase im Familienverlauf aus.

Entscheidend ist, was in den 15 Jahren danach passiert. Und auch hier sind die Zahlen eindeutig: Während knapp 70 Prozent der erwerbstätigen Mütter in Teilzeit arbeiten, sind es bei den Vätern nur 7,5 Prozent. "Das ist eine enorme Diskrepanz", sagt Berghammer. Trotzdem habe sich in den vergangenen Jahrzehnten viel verändert. Väter gelten zwar nach wie vor als Ernährer der Familie, sie sollen aber auch engagierte Vaterfiguren sein. Studien zeigen, dass die Zeit, die sie mit den Kindern verbringen, stark angestiegen ist. 47 Prozent wünschen sich mehr Zeit mit dem Nachwuchs.

Laut Berghammer sind aber auch die Aktivitäten andere. Väter spielen häufiger mit den Kindern, Mütter wickeln, baden, betreuen Hausübungen und haben auch einen stärkeren Mental Load, da sie das Familienleben organisieren.

Die Soziologin ist sicher, dass der Gleichberechtigungstrend zwar langsam, aber stetig weitergeht. "Es wird zunehmend egalitärer. In ländlichen Gegenden fehlen häufig noch Rahmenbedingungen für Familien", sagt sie. Der Ausbau der Kinderbetreuung etwa gehe zu langsam.

Illustration: Oana Rotariu

Ängste: In einer zunehmend ungewissen Zukunft

Man schwitzt, spürt Druck in der Brust oder hat Magenprobleme. Das Herz rast, oder im Kopf macht sich dieser eine Gedanke breit, der einen einfach nicht mehr loslässt. Die Symptome der Angst sind so vielfältig wie sie selbst: Es gibt die Angst vor Spinnen, Vorträgen, die Angst zu versagen, vor Menschenmengen oder vor der Erderhitzung.

Obwohl Angst "ein großer Leidfaktor in unserem Leben ist", wie die Psychotherapeutin Manuela Ladstätter sagt, wird über sie nicht gerne gesprochen. Betroffene fürchten, als schwach zu gelten, oder schämen sich, nicht der gesellschaftlichen Norm zu entsprechen. Daher verstecken viele ihre Ängste, weiß Ladstätter: "Sie sagen, sie wollen nicht mit dem Lift fahren, um sich mehr zu bewegen. In Wahrheit leiden sie unter Klaustrophobie und gehen deshalb zu Fuß."

Offener über seine Ängste zu sprechen wäre aber wichtig, sagt die Psychotherapeutin. "Wenn man es teilt, muss man es nicht allein tragen." Das könne eine große Entlastung bringen. Außerdem: "Vielleicht hat ja auch das Gegenüber Ängste, und man kann sich austauschen? Der Austausch hilft." Wenn das Leiden zu groß wird und einen normalen Tagesablauf unmöglich macht, sei es wichtig, eine Expertin oder einen Experten zurate zu ziehen. Mit ihrer oder seiner Hilfe ließen sich Techniken erlernen, um mit der Angst positiv umzugehen, sagt Ladstätter.

Ihr ist wichtig zu sagen, dass Angst auch einen positiven Effekt haben kann – indem sie uns antreibt, uns beflügelt, zum Beispiel beim Lampenfieber: "Die Angst ist unangenehm, aber sie fokussiert uns – und wenn wir auf der Bühne stehen, ist sie weg."

Illustration: Oana Rotariu

Überalterung: Wir werden immer älter – Zeit, sich von Vorurteilen zu lösen

Alt sein und älter werden – das sind Themen, die wir meiden. Wer beschäftigt sich schon gerne mit dem eigenen Zerfall und Tod? "Selbst ältere Personen distanzieren sich von ihrem Alter", weiß Jana Nikitin, Leiterin des Arbeitsbereichs Psychologie des Alterns an der Uni Wien. Doch das Altern war nicht immer negativ besetzt. Nikitin zitiert eine Studie, die Wörter, die zwischen 1810 und 2009 verschriftlicht worden sind, untersucht. Das Ergebnis: Bis zum 19. Jahrhundert waren Ältere mit den Begriffen "weise" und "erfahren" konnotiert, danach haben sich die Stereotype ins Negative gedreht. Für Nikitin ein paradoxer Zustand, denn "ältere Menschen leben heute gesünder, sind integriert und sparen der Gesellschaft durch ihr soziales Engagement Milliarden".

Den Grund für das Tabuthema Alter sieht die Forscherin in unserer leistungsgetriebenen Gesellschaft. "Wer nicht zu hundert Prozent leisten kann, wird zum Außenseiter." Zudem wolle uns die Anti-Aging-Industrie weismachen, dass man das Altern bekämpfen müsse. Das empfindet Nikitin als tickende Zeitbombe – zumal Menschen immer älter werden. "Wir internalisieren negative Stereotype über das Altern, wenn wir jung sind, und diese Tabuisierung holt uns im Alter ein." Ein Lösungsansatz: die Gesellschaft nicht mehr in Jung und Alt trennen und das Potenzial älterer Menschen nutzen. So kommen positive Aspekte des Alterns, etwa Erfahrungs- und Wissensschatz, automatisch zum Vorschein.

Illustration: Oana Rotariu

Menstruation: Aus mit dem Versteckspiel

Wie schmuggle ich ein Tampon aufs Klo? Diese Frage hört Hanna Rohn häufig während Workshops. Sie ist Sexualpädagogin im Frauengesundheitszentrum Graz und hat die Erfahrung gemacht, dass viele Menstruation als etwas Lästiges und Schmutziges sehen, das man verstecken muss. Nachvollziehbar ist das für Rohn nicht: "Die Menstruation betrifft einen großen Teil der Menschheit und stellt sicher, dass wir weiterbestehen können. Sie ist eine Leistung des Körpers."

Menstruation müsse zu einem alltäglichen Thema werden, denn darüber zu reden schaffe ein Wir-Gefühl und Solidarität. Es brauche jedoch auch Rahmenbedingungen, etwa Menstruationsprodukte auf Toiletten. "Wir nehmen ja auch nicht jedes Mal extra Toilettenpapier mit, wenn wir aufs Klo müssen", sagt Rohn. Da manche Personen während der Menstruation erschöpfter sind als andere, empfiehlt sie, in Schulen und Büros Räume zum Ausruhen zu schaffen.

In einigen Ländern gibt es sogar einen sogenannten "Menstrual Leave", also einen Menstruationsurlaub. In Spanien etwa hat die Regierung vergangenen Mai einen Gesetzesentwurf präsentiert, der einen Krankenstand bei menstruationsbedingten Beschwerden bereits ab dem ersten Tag zulässt. Auch hierzulande wird immer wieder die Forderung nach einem entsprechenden Gesetz laut. Ein Wiener Start-up setzte die Regelung auf freiwilliger Basis um: Dort bekommen schmerzgeplagte Mitarbeiterinnen bis zu zwei Tage pro Monat frei – und müssen nicht mehr einen Magen-Darm-Infekt als Ausrede erfinden.

Illustration: Oana Rotariu

Mental Health: Wird im Arbeitsleben künftig wichtiger

Traurig, niedergeschlagen oder antriebslos – so fühlen sich alle Menschen ab und zu. Wer an einer Depression leidet, erlebt solche Stimmungen aber intensiver und über lange Zeiträume hinweg. Rund 400.000 Menschen in Österreich sind betroffen – Tendenz steigend. Jede fünfte Person erkrankt im Laufe ihres Lebens an einer Depression.

Gesellschaftlich ist das Thema immer weniger ein Tabu, sagt die Psychotherapeutin und Psychologin Nicole Trummer. Viele sprechen heute öffentlich über ihre Erfahrungen. Trotzdem wird über Depressionen häufig noch geschwiegen, etwa im Job. Betroffene schämen sich dafür, weniger leisten zu können, und halten ihre Erkrankung oft versteckt.

Ein wichtiger Schritt für die Gesellschaft ist laut Trummer zu akzeptieren, dass Depression eine Krankheit ist, die man von außen nicht unbedingt sehen kann. Wird eine Depression rechtzeitig entdeckt, lässt sie sich in der Regel gut behandeln. In Österreich fehlen jedoch weiterhin Therapieplätze. Fachleute fordern daher schon lange, das Angebot für Betroffene zu verbessern. Zudem helfe es, bereits in der Schule über psychische Probleme, Stress oder Trauer zu sprechen – und dadurch ein frühes Bewusstsein für Depression zu schaffen.

Illustration: Oana Rotariu

Kinderlosigkeit: Nachwuchs muss nicht mehr alles sein

Sie ist 32, hat eine unbefristete Stelle, seit vier Jahren einen Partner, und die gemeinsame Wohnung hat drei Zimmer. Deshalb werde sie bei jeder Gelegenheit gefragt, ob sie schon schwanger sei. Dabei wolle sie keine Kinder, "überhaupt nicht, niemals", schreibt eine Journalistin in dem deutschen Magazin Zeit Campus. Sie spricht damit an, wie es vielen Frauen und wohl auch einigen Männern um die 30 geht: Sie werden mit dem Thema einfach nicht in Ruhe gelassen. Halten sie das Baby der Cousine im Arm, heißt es etwa: "Mei süß, das würde dir aber auch gut stehen!" Oder noch direkter: "Und wann ist es bei euch so weit?"

Was für die Fragenden eine Bemerkung mit Augenzwinkern ist, kann für die Adressaten zur echten Belastung werden. Schließlich will sich niemand permanent für etwas rechtfertigen müssen, das eigentlich nur das Paar selbst etwas angeht. In der Gesellschaft herrscht oft die Vorstellung vor: ohne Kinder kein Happy End.

Dabei spricht einiges für ein Leben ohne Kinder: weniger schlaflose Nächte und Geduldsproben, mehr Zeit für sich selbst. Wie Erhebungen zeigen, sind Eltern im Schnitt auch nicht glücklicher als Kinderlose. Laut Forschenden kommt es auf andere Faktoren an – etwa Gesundheit, materielle Absicherung, stabile Beziehungen oder das Gefühl, mit den eigenen Werten im Einklang zu leben. Dem Klima würde es ebenfalls helfen, wenn weniger Kinder gezeugt würden, argumentiert zudem die Buchautorin Verena Brunschweiger. Auch wenn ihre Thesen kontrovers gesehen werden: Wir sollten zumindest über die Möglichkeit eines kinderlosen Lebens sprechen.

Illustration: Oana Rotariu

Finanzen: Ungleichheit mit Worten bekämpfen

Über Geld spricht man nicht, man hat es", lautet ein altes Sprichwort. Über solche Floskeln können viele Menschen nur müde lächeln – vor allem in einer Phase der extremen Teuerung, wo viele jeden Euro zweimal umdrehen müssen. Doch schon vor der Energiekrise nahm die Ungleichheit in Europa zu.

Im Kampf dagegen wird oft die Forderung nach Transparenz laut. Doch in Österreich spricht man nicht gerne über Geld. Nur ein Viertel der Menschen in Österreich spricht mit Freunden über das eigene Gehalt, mit Arbeitskolleginnen und -kollegen ist es sogar nur ein Fünftel. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie der Jobbewertungsplattform Kununu.

Viele gehen Gesprächen über das Gehalt aus dem Weg. Sie gelten als nicht gerade angenehm. Dabei kommt die große Ungleichheit nicht durch die 100 Euro zustande, die der Nachbar oder die Freundin mehr verdient.

Eher sollten wir die Gehälter in Spitzenpositionen hinterfragen – und in Relation zu jenen der untersten Ebene setzen. Auch wie wenig Menschen in systemrelevanten Berufen oftmals verdienen, sollte häufiger Teil der öffentlichen Debatte sein.

Dafür müssen wir die unangenehmen Gefühle beiseiteschieben und über Geld sprechen – und Transparenz einfordern. Studien haben gezeigt, dass die Belegschaft zufriedener ist und mehr Vertrauen in ihren Arbeitgeber hat, wenn dieser Gehälter transparent macht. Eine andere Untersuchung beobachtete 100.000 Mitarbeitende mit akademischen Abschluss über 20 Jahre. Wo Gehälter offengelegt wurden, sanken die Unterschiede. (Julia Beirer, Lisa Breit, Florian Koch, Philip Pramer, 26.11.2022)