Foto: AP / Thibault Camus

Die innige Verbundenheit, die Jean-Michel Jarre mit synthetischen Klangerzeugern pflegt, wurde ihm nicht an der Wiege gesungen. Als Bub lauschte Frankreichs berühmtester Elektronikmusiker einmal der Cooljazz-Legende Chet Baker: einer unendlich traurigen Trompete, die über Verlassenheit klagte. Obwohl die Maschinen bis heute Jarres beste Freunde sind, dankbar für jeden Ölwechsel und ein paar frische Kabel, bringt sie der Sternenreiter (heute 74 Jahre alt) auch auf seinem mittlerweile 22. Album mit dem Titel Oxymore immer noch zum Schnaufen und Seufzen.

Als Trivialkünstler hat man ihn häufig, und oft genug zu Unrecht, geschmäht. Das gemächliche Pluckern von "Oxygène (Part IV)", gehüllt in Wolken von Sternenstaub, hat eine Unzahl von Weltraum-Dokus akustisch untermalen geholfen: Pop vom Sirius. Spätestens seit 1976 lockerte Jarre der elektronischen Musik den Kragen. Den "kosmischen Klangkurieren", die sich in der Bundesrepublik Deutschland hinter riesigen Einbaukästen verkrochen, hatte er von Anfang an einen gesunden Hang zum Populären voraus.

Stockhausen-Schüler trugen das Haar streng gescheitelt. Jarre ging lieber topfrisiert hinaus auf die Plätze und Straßen. Er dröhnte in Pyramiden-Nähe (Gizeh) oder brachte Pekings Verbotene Stadt öffentlich zum Vibrieren. Millionen Menschen standen sich vor Jarres Elektronikburgen die Füße in den Bauch. Das freundliche Zirpen seiner Synthesizer wurde in den Jahren nach 1980 von kilometerlangen Strahlenbündeln überwölbt. Zu Silvester 2020 trat der Klangmagier als sein eigener Avatar in Notre-Dame auf.

Herkunft als Klangforscher

Nichts schien dem Beau heilig. Außer jetzt: Auf Oxymore besinnt Jarre sich seiner eigenen Herkunft als Klangforscher, der bei den Musique-concrète-Päpsten Pierre Schaeffer und Pierre Henry in die Schule ging. Das neue Album startet mit gefundenen Klängen, mit Interviewfetzen aus dem Mund des 2017 verstorbenen Henry: Der spricht von "Regeln", von "Determination". Dabei hatte Pierre Henry sich selbst sein Leben lang um keine Dogmen geschert. Sondern war mit Mikro und Tonband durch Paris geschlendert, um zivilisatorische Geräusche aufzuspüren und einzusammeln, so wie Peter Handke seine Morcheln.

Jarre hat selbst immer wieder Klangfundstücke in seine Kompositionen integriert. Sein Rückbezug auf Collage-Künstler aus dem Jahre Schnee stützt sich auf Leihgaben von Henrys Witwe. Der erste Eindruck täuscht: Jean-Michel Jarre unternimmt eine Zeitreise, die ihn ins Metaverse führt. Das Ganze lockt den Kunden am hochwertigen Endgerät mit 360-Grad-Rundum-Sound und Big Beats. Cyborgs bekunden Unmut, virtuelle Wesen kollidieren mit Korallenbänken oder haben ungeschützten Maschinensex. Ein Track wie "Zeitgeist" erscheint gar wie ein Liebesgruß an Ralf Hütter, zelebriert die Nähe zu Kraftwerk und lebt die Idee der Demokratisierung: Klangforschung ist für alle da, und damit basta! Ein Ohrenschmaus. (Ronald Pohl, 26.11.2022)