Vor allem Frankreich – vertreten durch Innenminister Gerald Darmanin (links) – hatte auf das Treffen gepocht.

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Die EU-Kommission will schärfer gegen den Zustrom irregulärer Migranten über die Balkanroute vorgehen und plant einen dementsprechenden "Aktionsplan Westbalkan". Ein Aktionsplan soll vor dem Balkangipfel am 6. Dezember vorliegen, kündigte EU-Kommissionsvize Margaritis Schinas nach dem Sonderrat der EU-Innenminister am Freitag in Brüssel an.

Den Anstoß zu dieser Sitzung hatte eigentlich Frankreich gegeben, wegen des jüngst aufgeflammten Streits mit Italien über die Aufnahme von Migranten, die den EU-Raum als Bootsflüchtlinge über die zentrale Mittelmeerroute betreten. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson machte aber bereits im Vorfeld deutlich, dass die 2022 sprunghaft angestiegene Zahl der Ankommenden auf dem Landweg auf dem Balkan der Zentralbehörde in Brüssel zunehmend Sorge bereite.

Details im Dezember

Damit war klar, dass diesem Thema ebenso breiter Raum gegeben wird, wie Österreichs Innenminister Gerhard Karner und seine Amtskollegen aus den Visegrad-Staaten am Vortag bei einem Treffen in Prag gefordert hatten.

Jüngste Zahlen der EU-Behörde Frontex zeigen, dass dieses Jahr bis Oktober 281.000 Menschen unregistriert Richtung Zentraleuropa gezogen sind. Das entspricht einer Zunahme von 77 Prozent im Vergleich zu 2021, so viele wie seit dem Jahr 2016 nicht mehr. "Es ist an der Zeit, einen Aktionsplan auch für die Balkanroute zu erstellen", erklärte Johansson. Details sollen später folgen, wenn die Innenminister sich im Dezember zur nächsten regulären Sitzung treffen.

Starke Balkanroute

Die Kommission ist vor allem auch darüber irritiert, weil Zehntausende aus Indien, Tunesien oder Burundi auf diesem Weg in die EU einsickern, indem sie die Visafreiheit in Serbien nützen. Überraschend deutlich erklärte die EU-Innenkommissarin laut dem Nachrichtenportal "Politico" dazu, dass "Österreich sehr stark betroffen ist" von dieser irregulären Zuwanderung.

Die Balkanroute sei "der aktivste Zutrittsbereich in die EU", berichtete Frontex. Allein im Oktober seien 22.300 Grenzübertritte verzeichnet worden, dreimal so viel wie vor einem Jahr. Der österreichische Innenminister berichtete seinen Kollegen, dass Stand heute seit Jahresbeginn 100.000 Migranten sein Land erreicht hätten, 75.000 seien unregistriert in andere EU-Staaten weitergezogen. Das liegt vor allem daran, dass Ungarn praktisch keine Asylwerber aufnimmt, wie aus den Zahlen von Eurostat für August hervorgeht: Nur ein Asylwerber pro eine Million Einwohner sei zu der Zeit in Ungarn registriert worden.

In dieser Statistik liegt Österreich sogar auf Platz eins mit 1.563 Asylanträgen pro einer Million Einwohner, gefolgt von Zypern (1.482) und Kroatien (351). Auch in absoluten Zahlen liegt Österreich mit 14.030 Erstanträgen ganz vorne. Nur Deutschland verzeichnete im August die meisten Anträge, nämlich 16.950. Dann kommen Frankreich (11.900) Spanien (8.650) und Italien (5.985), die freilich viel mehr Einwohner haben als Österreich. Diese fünf EU-Staaten nahmen zusammen fast drei Viertel aller Asylanträge in der EU entgegen, insgesamt 77.595, ein Plus von 54 Prozent gegenüber August 2021.

Harter Kurs

Frankreich blieb am Freitag bei dem Sondertreffen der europäischen Innenminister jedenfalls weiterhin hart gegenüber Rom. Solange die rechtsgerichtete italienische Regierung die Häfen nicht für Rettungsschiffe öffne, werde Frankreich nicht wie zugesagt tausende Migranten von Italien übernehmen, sagte der französische Innenminister Gérald Darmanin in Brüssel.

Darmanin warf Italien vor, mit der Schließung seiner Häfen für Rettungsschiffe wie zuletzt die Ocean Viking das "Seerecht zu missachten". Damit gebe es für Frankreich wie auch für Deutschland "keinen Grund", wie zugesagt je 3.500 Menschen von Italien zu übernehmen.

Der griechische Minister für Einwanderung und Asyl, Notis Mitarachi, forderte ein verpflichtendes System zur Umverteilung von Geflüchteten. "Wir reden schon zu lange über eine europäische Lösung für die Migrationskrise", sagte er in Brüssel. Nun müsse es "Resultate" geben.

Abgeschwächte Drohung

Karner betonte in Brüssel, dass er fünf Schritte von der EU-Kommission gefordert habe. Seine Drohung, den Beitritt von Kroatien, Rumänien und Bulgarien zum Schengen-Raum per Veto zu blockieren, weil diese die EU-Außengrenzen nicht ausreichend schützten, schwächte er ab: "Die Schengen-Erweiterung steht nicht auf der Tagesordnung. Aus jetziger Sicht kann ich mir diese Erweiterung nicht vorstellen." Karner verlangt ein Pilotprojekt für Asylverfahren in einem EU-Land an der EU-Außengrenze und eine neue "Zurückweisungsrichtlinie", sodass Asylwerber ohne Chance auf Asyl auch ohne Verfahren abgewiesen werden könnten und Einzelfallprüfungen nicht mehr erforderlich wären, wie die EU-Asylregeln das vorsehen.

Drittens will der Innenminister den lange ausstehenden EU-Plan umgesetzt wissen, dass Asylverfahren auch in sicheren Drittstaaten durchgeführt werden können, um den Druck von irregulärer Migration zu nehmen. Zudem will er eine leichtere Aberkennung des Schutzstatus nach der Verfahrensrichtlinie auch bei nichtschweren Straftaten bzw. mehr Unterstützung von EU-Staaten für Frontex an der EU-Außengrenze und in Drittstaaten. Schinas nannte die österreichischen Vorschläge "konstruktiv", "sie gehen in unsere Richtung", so der EU-Kommissionsvize.

Es gebe in Österreich eine "unerträgliche Situation", erklärte Karner angesichts von 100.000 Aufgriffen und 75.000 nichtregistrierte Migranten, "obwohl wir ein Binnen-EU-Land sind. Das heißt, da funktioniert etwas nicht am System." (Thomas Mayer, APA, 25.11.2022)