Fußballdressen sieht man in der Fanzone der Arbeiter nur selten, die meisten kommen in Zivil – oft direkt von ihrem langen Arbeitstag.

Foto: EPA/MARTIN DIVISEK

Brasilien, Argentinien und die großen europäischen Nationen wie hier England sind in Dohas Arbeiterviertel beliebt.

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Das müde Herz der Weltmeisterschaft schlägt auf einem Cricketfeld am südwestlichen Rand Dohas. Dort, in der Fanzone direkt neben dem Einkaufszentrum Asian Town schauen jene Fußball, die Katars WM ermöglicht haben: Bauarbeiter, Wachleute, Hotelangestellte. Ganz herumgesprochen hat sich die Veranstaltung noch nicht, Uber-Fahrer Jakir fragt verwirrt: "Alle gehen Fußball schauen, und du willst Cricket sehen?" Das, obwohl er Fußballfan ist, aber darüber spricht er derzeit nicht so gern. Sein Herz gehört Argentinien.

Der letzte Teil der halbstündigen Fahrt aus Dohas Zentrum führt durch die Labour City. Hier wohnen jene, die zum Arbeiten hier sind, nicht zum Leben. Und hier sollen sie auch bleiben, wenn es nach Dohas Chefs geht. Die Fanzonen in den prunkvollen Bezirken Dohas sind bunt, teuer, sauber – und kostenpflichtig.

Rein kommt man nur mit einer Hayya-Card, für diese braucht man ein Ticket für ein Match. Es soll Arbeiter geben, die eines der für Einwohner Katars vorbehaltenen Tickets um umgerechnet zehn Euro ergattert haben. Der STANDARD fand keinen von ihnen. Das billigste der normalen Tickets würde ein Viertel des Mindestlohns fressen – das geht nicht, denn die Familie wartet zu Hause auf das Geld.

Die Weltmeisterschaft in Katar wird von heftiger Kritik an den Arbeitsbedingungen tausender Gastarbeiter begleitet. Der STANDARD hat einen ehemaligen Arbeiter in Wien getroffen.

DER STANDARD

Also bleibt der Mehrheit nur diese Fanzone, für die sie keine Hayya-Card brauchen. Das ist kein ganz neuer Gedanke: Im Mai machte das Einkaufszentrum Place Vendôme die Feiertage des Eid zum "Family Day", nachdem zur Eröffnung auch viele Arbeiter gekommen waren. So durften keine Männer ohne Familie mehr in die Mall. Auch aus der katarischen Gesellschaft gab es dagegen Proteste.

Müder Nachmittag

Donnerstagnachmittag, die zweite Halbzeit von Schweiz – Kamerun hat gerade begonnen. Im Cricket-Stadion und auf dem Vorplatz, auf dem für die gut besuchten Abende eine zweite Leinwand steht, fläzen sich etwa hundert Männer im Gras und auf Sitzsäcken. Das Personal ist schon in Vollbesetzung, geschätzte 300 Mann sitzen beim Eingang, Ausgang und auf dem Gelände im Schatten. Würde jemand umkippen, könnten sich zehn Sanitäter um die Versorgung streiten. "Danke für euren Beitrag zur besten WM aller Zeiten", steht dreisprachig auf einer Wand beim Eingang.

In der Premium-Fanzone im Al-Bidda-Park ist die Essensversorgung in Stände unterteilt: North America, Europe, Africa, Asia, Arabic, der neue entdeckte Kontinent Costa Coffee. Die Kulinarik der Arbeiter-Fanzone bildet ihren Teil der Welt ab: Pakistani, Bangladesh, Filipino, Arabic, South Indian, Hyderabadi, Nepali, Chaat, Chinese, Mandi, North Indian.

Nepalesische Arbeiter in der Fanzone.
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Keine Sorge, Sie haben keine Geografielücken. Chaat und Mandi sind Speisen. Und zwar bessere und günstigere als alles, das man am Prachtboulevard Corniche für Häkelpreise erstehen kann. Hier, fernab der westlichen Augen, hört sich auch die vom Organisationskomitee gerne propagierte Nachhaltigkeit auf. Der Styroporteller ist eingepackt in Zellophan, dazu gibt’s Plastiksackerl und Plastikbesteck.

Entertainment

In der prallen Sonne stößt die Leinwand an ihre Grenzen. Spannender als die Matches ist ohnehin die Pausenshow. Mit Schlusspfiff betritt eine Vollblut-Entertainerin die Bühne, Kernkompetenz: lautes Organ. An anderen Tagen wird auf Hindi moderiert, anlässlich des Kamerun-Matchs steigt sie auf Englisch um. "Oh my God, all my Cameroon supporters, you look so sad", seufzt die Platzsprecherin. Aber keine Sorge, ruft die motivierte Dame: Es gibt Goodies zu gewinnen!

Spiel Nummer eins: Keks auf ein Auge legen, ohne Handkontakt essen. Ausgerechnet ein Volunteer gewinnt. Der hat doch schon Merchandise! So kriegen die ersten drei ein T-Shirt. Ibrahim, James und Sam freuen sich. Die Gute-Laune-Priesterin auch: "Biscuit game was good, right? Super super, awesome awesome." Dann gibt’s Armdrücken. Mangels Tischs müssen sich die Gegner hinlegen. Beim ersten Duell ist die Queen of Scream begeistert: "Oh my god, this is really getting good, huh?" In der zweiten Runde schreit sie einfach nur mehr. Lafael aus Kenia gewinnt.

Es gibt noch Restplätze: Auf dem Nebengelände schauen gezählte zwei Personen, die nicht hier arbeiten, Schweiz – Kamerun.
Foto: Martin Schauhuber

Die 13-Uhr-Spiele können nur jene schauen, die ihren freien Tag haben, für die 16-Uhr-Matches füllt sich das Stadion. Die Abendpartien schauen Tausende. Auf dem Cricket-Grün lernt man, wie viele Gastarbeiterjobs es außerhalb des Baugewerbes gibt: Logistik, Gastronomie, Kofferträger. Viele sagen, dass sie so oft wie möglich hier sind, auch wenn Fußball nicht alle begeistert.

Abendbeschäftigung

Kostenlose Unterhaltung außerhalb des Smartphones gibt es hier nicht oft, mangels U-Bahn-Anschluss kommt man aus den meist desolaten Quartieren der Industrial Area kaum in die Innenstadt. Shuttle zum Arbeitsplatz, Shuttle nach Hause, essen, schlafen. Da sind Fanzone samt Zeremonienmeisterin willkommen. Die läutet gerade die dritte Runde des Armdrückens ein, ein Senior tritt an. Grauer Bart, würdevoller Blick, man würde ihn eher als Yogi in einem indischen Aschram vermuten. Obacht vor der Kraft alter Männer! Gegen Brandon aus Kenia hat er aber keine Chance.

Nach einer Viertelstunde dieses Entertainments kommt man sich vor wie bei einer der ganz kleinen Bühnen auf dem Donauinselfest. Aber dann kommen zwei spanisch aussehende Ballzauberer, sie gaberln und tricksen, eine Ballbehandlung wie eine Seerobbe. Das ist übrigens der Moment, an dem der STANDARD-Reporter nicht mehr der einzige Weiße im Stadion ist. Und dann: "Who likes Bollywood dancing?", frohlockt es aus den Lautsprechern. Keiner der Befragten. Die bestens choreografierte Bollywood-Tanzgruppe kommt trotzdem auf die Bühne, dem Publikum gefällt’s.

Auch auf dem Vorplatz gibt es Livemusik, dazu wirbelt ein Derwisch, auf Stelzen stakst ein Artist im silbernen Glitzeroutfit vorbei. Ein Hauch Burning Man. Das Publikum dankt mit Handyfotos und Videotelefonaten. Man wird das Wissen nicht los, dass tausende Arbeiter Fußballdarts, Bollywoodtanz und Entertainment-Dauerfeuer nicht mehr erlebt haben, aber: Hier haben Menschen Spaß. (Martin Schauhuber aus Doha, 26.11.2022)