Der ukrainische Präsident inspizierte beschädigte Gebäude in Wyschgorod in der Nähe der Hauptstadt Kiew. Die ukrainischen Behörden bemühen sich am Samstag um die Wiederherstellung der Strom- und Wasserversorgung.

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Kiew/Moskau – Nach schweren russischen Angriffen sind in der ukrainischen Hauptstadt Kiew Zehntausende Bewohnerinnen und Bewohner weiterhin ohne Strom. Am Samstagvormittag seien noch 130.000 Menschen betroffen gewesen, teilte die städtische Militärverwaltung mit. Die Reparaturen sollen innerhalb von 24 Stunden abgeschlossen werden. Dann sollen auch alle Heizungen wieder funktionieren. Kiews Bürgermeister Witali Klitschko warnte indes nach Kritik von Präsident Wolodymyr Selenskyj vor politischem Streit.

Selenskyj übt Kritik an Klitschko

Selenskyj hatte kritisiert, dass gerade in der Drei-Millionen-Metropole Kiew die Wiederherstellung der Stromversorgung nur langsam vorangehe. "Viele Kiewer Bürger waren mehr als 20 oder sogar 30 Stunden ohne Strom", sagte er am Freitagabend. Er erwarte vom Büro des Bürgermeisters Qualitätsarbeit, sagte er in selten offener Kritik an Klitschko. "Der Schlüssel des Erfolgs der Ukraine nach dem Angriff Russlands auf unser Land ist der Zusammenhalt, sowohl national als auch international", antwortete Klitschko gegenüber der "Bild am Sonntag". "Wir müssen weiter gemeinsam dafür sorgen, das Land zu verteidigen und die Infrastruktur zu schützen."

Klitschko versicherte nun, dass in "Rekordtempo" an einer Lösung gearbeitet werde. "Die Stadt hat wieder Wasser und 95 Prozent Heizung, jetzt arbeiten wir vor allem daran, dass der Strom überall zurückkommt." Die Wasserversorgung war bereits zuvor wiederhergestellt worden, hieß es aus der städtischen Militärverwaltung. Lediglich in den obersten Etagen von Hochhäusern könne es noch Probleme mit niedrigem Wasserdruck geben.

Cherson wieder am Stromnetz angeschlossen

Die Stadt Cherson im Süden der Ukraine hat mittlerweile wieder Strom. Zunächst solle die kritische Infrastruktur wieder versorgt werden und unmittelbar danach die Haushalte, schrieb Präsidialberater Kyrylo Tymoschenko am Samstag auf Telegram. Seit der Rückeroberung Chersons durch ukrainische Truppen am 11. November war die Stadt von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten, Heizung gab es ebenfalls nicht.

Mit Dutzenden Raketen und Marschflugkörpern hatte Russland am Mittwoch gezielt die Energie-Infrastruktur der Ukraine beschossen und schwere Schäden angerichtet. Auch in vielen anderen Landesteilen fielen Strom, Wasser und Wärmeversorgung aus. Angesichts des beginnenden Winters ist die Lage vielerorts dramatisch.

Russische Raketenangriffe

Bei erneuten russischen Raketenangriffen auf die ukrainische Industriestadt Dnipro wurden mindestens 13 Menschen verletzt. "Vier davon sind im Krankenhaus, darunter ein 17-Jähriger", teilte der Militärgouverneur der Region Dnipropetrowsk, Walentyn Resnitschenko, am Samstag auf seinem Telegram-Kanal mit. Unter den Trümmern der getroffenen Wohnhäuser werden noch weitere Opfer vermutet. Insgesamt sind nach Behördenangaben sieben Wohnhäuser durch den Angriff beschädigt worden. Zudem wurde ein Lager zerstört. Die Rettungskräfte suchen nach einem Lagermitarbeiter, der vermisst wird.

Unter den Verletzten sei auch ein 17-Jähriger.
Foto: IMAGO/Mykola Miakshykov

Neben Dnipro traf es am Samstag auch die Kleinstadt Tschassiw Jar im ostukrainischen Gebiet Donezk. In der unter ukrainischer Kontrolle stehenden Stadt wurde ein Mehrfamilienhaus getroffen, dabei seien drei Menschen verletzt worden, teilte der Militärgouverneur der Region, Pawlo Kyrylenko, mit.

Auf der Gegenseite beklagen die von Russland unterstützten Separatisten in Donezk den anhaltenden Beschuss der Großstadt durch ukrainisches Militär. Am Samstag sei dadurch eine Person getötet und eine weitere verletzt worden, heißt es.

Austausch zwölf Kriegsgefangener

Russland und die Ukraine haben unterdessen bereits zum dritten Mal innerhalb einer Woche Kriegsgefangene ausgetauscht. "Uns ist es gelungen, zwölf unserer Leute zu befreien", teilte der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, Andrij Jermak, am Samstag auf seinem Telegram-Kanal mit. Das Verteidigungsministerium in Moskau bestätigte den Austausch von neun Soldaten mit russischer Staatsangehörigkeit.

Russland setzt auf veraltete Trägerraketen

Russland setzt in der Ukraine nach Einschätzung britischer Geheimdienste veraltete Trägerraketen ein, die eigentlich für nukleare Sprengköpfe ausgelegt sind. Auf öffentlich zugänglichen Aufnahmen seien Trümmer eines mutmaßlich abgeschossenen Raketentyps zu erkennen, der aus den 1980er Jahren stamme und als nukleares Trägersystem entwickelt worden sei, hieß es am Samstag in einem Bericht des britischen Verteidigungsministeriums. Die Trägerraketen würden jetzt unbewaffnet abgefeuert, ohne die Sprengköpfe.

Obwohl diese Raketen trotzdem Schaden anrichten könnten, sei es unwahrscheinlich, dass Moskau damit ernsthafte Erfolge erreiche, hieß es von der britischen Regierung. Vielmehr hoffe der Kreml wohl darauf, die ukrainische Luftabwehr abzulenken. London wertete dies als Zeichen dafür, wie erschöpft Russlands Arsenal an Langstreckenraketen sei.

Ukraine und NEOS fordern Anerkennung von Holodomor als Völkermord

90 Jahre nach der durch den Sowjetdiktator Josef Stalin gezielt herbeigeführten Hungersnot in der Ukraine fordern der ukrainische Botschafter in Wien, Wassyl Chymynez, sowie die NEOS die Verurteilung des Holodomors als Völkermord. "Es war ein klarer Genozid des damaligen Sowjetregimes am ukrainischen Volk, weil sich Ukrainerinnen und Ukrainer weigerten, dem Sowjetsystem beizutreten", heißt es am Samstag in der schriftlichen Erklärung des Botschafters.

Es sei höchste Zeit, dass auch der österreichische Nationalrat dieses Verbrechen, dem über fünf Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer zum Opfer gefallen seien, als Völkermord anerkenne, betonte Chymynez. Viele Parlamente in anderen Staaten hätten dies bereits getan oder würden diese in den nächsten Wochen tun. In Deutschland will der Bundestag am Mittwoch eine entsprechende Resolution verabschieden.

"Es wird ein erster wichtiger Schritt sein, wenn Österreich, entsprechend dem schon im Nationalrat eingebrachten Antrag, den Holodomor als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt", sagte NEOS-Menschenrechtssprecher Niki Scherak am Samstag in einer Aussendung. "Dem Beispiel des Deutschen Bundestags folgend, sollte Österreich jedoch weitergehen und den Holodomor als das bezeichnen, was er war: Ein Völkermord."

Grüne wollen Prüfung

Die Grünen hatten sich am Freitag für eine Prüfung ausgesprochen. Es sei "zu prüfen, ob der Nationalrat den Holodomor im Großraum der Ukraine nicht wie viele Parlamente anderer europäischer Länder gleichfalls als Völkermord anerkennt", erklärte die außenpolitische Sprecherin Ewa Ernst-Dziedzic in einer Aussendung. "Es gibt große Parallelen zwischen dem damaligen Holodomor und den heutigen Versuchen Russlands, die Ukraine in die Steinzeit zurückzubomben."

Die ÖVP-Menschenrechtssprecherin Gudrun Kugler verurteilte den "sowjetischen Hungermord an der ukrainischen Bevölkerung in den frühen Dreißigerjahren" als "schreckliches Verbrechen, das sich niemals wiederholen darf". Zur Diskussion über eine Anerkennung als Völkermord äußerte sie sich am Freitag jedoch nicht.

Dem sogenannten Holodomor ("Mord durch Hunger") fielen 1932 und 1933 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer zum Opfer. Tote gab es damals auch in anderen Teilen der Sowjetunion, etwa in Kasachstan und im Süden Russlands. Mehrere Länder haben den Holodomor bereits als Genozid am ukrainischen Volk eingestuft und verurteilt, am Donnerstag vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auch Irland, die Republik Moldau und Rumänien.

"Getreide aus der Ukraine" bringt 145 Millionen Euro für Afrika

Die ukrainische Nahrungsmittelinitiative zur Überwindung der Getreidekrise in afrikanischen Ländern hat 150 Millionen Dollar (144,58 Millionen Euro) von mehr als 20 teilnehmenden Ländern und der EU erhalten. Dies sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj während des internationalen Treffens zur Ernährungssicherheit "Getreide aus der Ukraine" am Samstag in Kiew laut Nachrichtenagentur Ukrinform. Österreich sagte für die Initiative 3,8 Millionen Euro zu.

Ein Shhiff liefere Nahrung für rund 90.000 Menschen.
Foto: IMAGO/Ukraine Presidency/Ukrainian Press Office/ZUMA Wire

"Die Ukraine war und bleibt ein Garant für die Welternährungssicherheit, und selbst unter solch harten Kriegsbedingungen arbeitet die ukrainische Führung für die globale Stabilität", sagte Selenskyj am Samstag bei einer Pressekonferenz zum Besuch von Belgiens Premier Alexander de Croo. Das Programm sieht Nahrungsmittellieferungen an die ärmsten Länder vor. Laut Selenskyj geht es um bis zu 60 Schiffe, die bis Mitte nächsten Jahres aus den ukrainischen Schwarzmeerhäfen um Odessa in Länder entsandt werden sollen, die von Hungersnot und Dürre bedroht sind. "Das ist Äthiopien, das sind Sudan, Südsudan, Somalia, Jemen, Kongo, Kenia, Nigeria", sagte er. Selenskyj wies darauf hin, dass im Rahmen der Initiative ein Schiff mit Getreide Nahrung für etwa 90.000 Menschen liefere.

Das Vorhaben soll das von den Vereinten Nationen ausgehandelte Getreideexport-Abkommen ergänzen. Mehrere europäische Länder haben zugesagt, die Lieferungen im Rahmen des Welternährungsprogramms (WFP) zu finanzieren. So hat Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt, ein von Deutschland gesponsertes Schiff des Programms sei derzeit auf dem Weg, um ukrainisches Getreide nach Äthiopien zu liefern.

Österreich sagt 3,8 Millionen Euro zu

Österreich sagte für die Initiative 3,8 Millionen Euro für die Lieferung ukrainischen Getreides an notleidende Menschen in Äthiopien und im Sudan zu. "Auch nach 276 Tagen lässt Russland in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht vom zynischen Einsatz von Hunger und Energie als Waffe gegen die ukrainische Bevölkerung und die Welt ab", sagte Außenminister Alexander Schallenberg nach Angaben des Außenministeriums im Rahmen der Initiative, die am Samstag in hybridem Format in Kiew stattfand. "Der Einsatz von Hunger als Waffe hat in dieser Welt keinen Platz."

Deutschland wird in Abstimmung mit dem WFP weitere 15 Millionen Euro für Getreidelieferungen aus der Ukraine bereitstellen, teilte Scholz in einem am Samstag verbreiteten Videostatement mit. Der französische Präsident Emmanuel Macron will sechs Millionen Euro zusätzlich für Getreidelieferungen aus der Ukraine in den Jemen und den Sudan im Rahmen des Welternährungsprogramms bereitstellen. "Die schwächsten Länder dürfen nicht den Preis für einen Krieg zahlen, den sie nicht gewollt haben", sagte Macron am Samstag in einer Videobotschaft auf Twitter. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine verschärfe die Destabilisierung von Lieferketten und drohe der Welt mit einer Nahrungsmittelkrise, so Macron. Frankreich habe sich wie die Ukraine für Solidarität entschieden.

Breite Unterstützung der Initiative

Die ungarische Staatspräsidentin Katalin Novák war persönlich nach Kiew gereist. Sie sagte Ungarns Unterstützung für die Initiative zu. Bedürftige Menschen können immer auf die Ungarn zählen, so Novák.

Die Vereinten Nationen und die Türkei hatten im Juli erreicht, dass Russland die Seeblockade ukrainischer Schwarzmeer-Häfen speziell für Getreideexporte aufhebt. Die Ukraine ist ein wichtiger Lieferant für die weltweite Versorgung mit Lebensmitteln.

Politischer Hintergrund der Initiative ist unter anderem der Plan, russischen Behauptungen entgegen zu wirken, wonach die reichen Länder des Westens mit ihren Sanktionen gegen Moskau die Hungerkrise provoziert hätten. Während der Westen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine scharf verurteilt hat, halten sich viele arme Länder mit einer Bewertung zurück – auch aus Angst vor möglichen Folgen für das eigene Land. Neben der Ukraine gilt auch Russland als einer der größten Getreidelieferanten weltweit. (APA, dpa, red, 26.11.2022)