Symbolpolitik und Identitätspolitik haben eine sachliche Diskussion verdrängt, sagt der Diplomat und Politikwissenschafter Thomas Nowotny. Im Gastkommentar stellt er elf grundsätzliche Fragen zur Neutralität.

Schweden und Finnland wollen zur Nato. Und wie sieht Österreichs Sicherheitspolitik aus? Eine sachliche Debatte darüber wird hierzulande kaum geführt.
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Ein Gutteil der Bevölkerung ist offensichtlich überzeugt davon, durch Österreichs Neutralität vor Verwicklungen in gewaltsame Konflikte geschützt zu sein (siehe "Wie passt die Zukunft unserer Sicherheit mit der Neutralität zusammen?"). In der Zeit des Kalten Kriegs war das nicht völlig unbegründet, weil sowohl der Osten wie auch der Westen am Erhalt des Istzustands und damit am Erhalt der österreichischen Neutralität interessiert waren. Seither aber haben sich die weltpolitischen Voraussetzungen für diese Form der Sicherheitspolitik verändert (siehe dazu auch Herfried Münklers Gastkommentar "Die Enttäuschungsverarbeitung der EU").

Heute bietet eine Neutralität im Sinne eines Abseitsstehens und "Sich-Heraushaltens" keine geeignete Grundlage für eine dieser neuen Lage angepasste Sicherheitspolitik. Sicherheit verlangt zumeist die Teilnahme an der gemeinsamen Abwehr von Gefahren und Bedrohungen, die mehrere Staaten treffen.

Bloß Identitätspolitik

Das aber wird nicht öffentlich diskutiert. Wie in vielen anderen Bereichen der österreichischen Politik haben auch hier Symbolpolitik und Identitätspolitik eine sachliche Diskussion verdrängt: Friedensapostel gegen Kriegshetzer; idealistische Erbauer von Konfliktparteien verbindenden Brücken auf der einen Seite; auf der anderen jene, die meinen, sich kriegsbereit einer Vielzahl von Drohungen entgegenstellen zu müssen. Diese Diskussion muss auf den Boden der Realität zurückgeholt werden.

Antworten auf praktische Fragen

Es geht um Antworten auf sehr praktische Fragen:

1 Welche Motive, die Schweden und Finnland zum Nato-Beitritt veranlasst haben, könnten auch für die österreichische Sicherheitspolitik bedeutsam sein – egal unter welcher Überschrift diese österreichische Sicherheitspolitik praktiziert wird?

2 Wird davon ausgegangen, dass sich Österreich allein und auf sich selbst gestellt verteidigen muss? Oder wird angenommen, dass dies vielmehr im Verbund mit anderen Staaten geschehen würde?

3 Gemäß dem Lissabonner Vertrag, quasi der Verfassung der Europäischen Union, sind andere EU-Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, Österreich – im Fall, dass dieses angegriffen wird – militärisch zu Hilfe zu kommen. Gilt Nämliches auch für Österreich? Muss Österreich anderen ebenfalls zu Hilfe kommen, wenn diese angegriffen werden? Und wenn ja: Wäre Österreich damit nicht auch ein Teil einer Militärallianz?

4 In welchem Ausmaß und mit welchen Ressourcen will sich Österreich in eine gemeinsame europäische Verteidigung einbringen?

5 Österreich hat als Mitglied der Europäischen Union einen Teil seiner Souveränität an die Union abgetreten. Es ist damit nur mehr "teilsouverän". Einigen Forderungen des klassischen Neutralitätsrechts – vor allem der Forderung zur wirtschaftlichen Gleichbehandlung von Konfliktgegnern – kann es damit nicht länger entsprechen, denn die Zuständigkeit für Entscheidungen in vielen Wirtschaftsfragen liegt nicht länger bei Österreich, sondern eben bei der Europäischen Union.

6 Darf ein Drittstaat einem angegriffenen Staat bei dessen Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen) zu Hilfe kommen, auch wenn diese Hilfe nicht durch den UN-Sicherheitsrat legitimiert ist? Und wenn ja: Wie lange und unter welchen Bedingungen darf ein dritter Staat dem angegriffenen Staat bei dessen Selbstverteidigung militärisch helfen?

7 Darf/kann/soll sich die Europäische Union in ihrer unmittelbaren geografischen Umgebung (vor allem in der Mena-Region, also im Nahen Osten und in Nordafrika) militärisch auch dann engagieren, wenn ihre Sicherheit von dort aus ernstlich bedroht wird? Oder soll sie solches Engagement vermeiden und – so wie bisher – militärische Interventionen Russland, der Türkei, dem Iran, Israel oder Saudi-Arabien überlassen?

8 Bislang galt die Annahme, dass sich Österreich nur an solchen kollektiven Militäraktionen beteiligt, die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossen wurden. Die zwei ständigen Sicherheitsratsmitglieder Russland und China sind Europa gegenüber zunehmend feindlich gestimmt. Sie würden einen ihnen nicht passenden Beschluss des Sicherheitsrats durch ihr Veto verhindern. In vielen der denkbaren Anlassfälle ist es daher wenig wahrscheinlich, dass ein die Interessen Europas schützender Sicherheitsratsbeschluss zustande kommt. Genügt daher für die Legitimierung der Teilnahme an einer Militärmission auch ein Beschluss der Europäischen Union?

9 Welche Bedrohungsbilder werden der beschlossenen Neuaufrüstung des Bundesheeres zugrunde gelegt?

10 Welche Folgen ergeben sich aus diesen Bedrohungsbildern für die Organisation des Heeres – vor allem für die Rollenverteilung zwischen Berufsheer und Miliz?

11 Welche Form der (notwendigen) Vernetzung des Heeres mit der umfassenden Landesverteidigung braucht es?

Ernsthaft bedroht

In seinem Selbstverständnis und formal "immerwährend neutral", hat sich Österreich in seiner sicherheitspolitischen Praxis dennoch laufend einer sich ändernden weltpolitischen Lage angepasst. Jetzt, da Europa und damit Österreich auf vielfache Weise ernsthaft bedroht ist, sind weitere Anpassungen erforderlich. Unweigerlich kommt es dabei zu einer tieferen Beteiligung an der gemeinsamen EU-Verteidigung und damit, zumindest indirekt, auch an der Nato. Aber das ist bloß die, wenn auch beschleunigte – Fortsetzung einer langfristigen Entwicklung. Wichtiger als darüber zu diskutieren, ob all das mit Neutralität vereinbar ist, wäre die Antwort auf die obigen Fragen und damit eine Auskunft darüber, in welche Richtung die österreichische Sicherheitspolitik konkret weiterentwickelt werden soll. (Thomas Nowotny, 28.11.2022)