Philosoph und Buchautor Richard David Precht – wie soll man mit jemandem ins Gespräch kommen, der alles zu wissen scheint?

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Vor einigen Tagen war ich zu einem Vortrag von Richard David Precht geladen. Es war beinahe der gleiche, den ich schon vor drei Jahren in Wien gehört hatte. Das Publikum in Zürich reagierte begeistert auf die Kunststücke dieses rhetorischen Akrobaten.

Der Vortrag dauerte eine halbe Stunde, danach saßen Precht und ich gemeinsam auf der Bühne, um über seine Zukunftstheorien zu diskutieren. Doch wie sollte ich mit jemandem ins Gespräch kommen, der alles zu wissen scheint? Ich hatte mir von einem Philosophen erwartet, dass er die richtigen Fragen stellt. Precht jedoch hatte auf fast alles eine Antwort.

Phänomen der Gegenwart

Er ist damit ein Phänomen der Gegenwart. Selbstsichere "Verkäufer" von Gewissheiten wie er stehen im Moment hoch im Kurs. Je unsicherer die Zeiten werden, desto mehr sehnen wir uns danach, Menschen zu haben, die alles erklären können, vor allem die Zukunft.

Die Talkshows im Fernsehen bieten für jeden Geschmack etwas: Wollen Sie mehr pro-europäisch, ökoliberal und digital oder doch lieber altes Bildungsbürgertum mit einer Prise Warnung vor dem Werteverfall oder gar Verschwörungstheorien? Das und mehr können Sie alles hören und sehen, wenn Sie durch die Fernsehkanäle zappen. Von den unsozialen Medien will ich gar nicht sprechen.

Gewissheiten aufgeben

Die Neuerfindung der Welt wird jedoch schwer auf Basis apodiktischer Verlautbarungen gelingen. Sollten wir nicht, um mit dem chilenischen Denker Humberto Maturana zu sprechen, lernen, unsere Gewissheiten aufzugeben und uns der Ungewissheit zu stellen?

Sich diese Ungewissheit einzugestehen fällt nicht nur den Stars der Talkshows wie Precht schwer. Wie oft erlebe ich im Alltag, dass Menschen glauben, alles verstehen und wissen zu müssen. Wie gut würde es manchmal tun zu hören: "Das weiß ich nicht." So aber bauen ganze Karrieren auf der eloquenten Aneinanderreihung von Schlagwörtern auf. Dabei wird der Druck, so zu tun als verstünde man alles und jedes, vermutlich umso stärker, je höher jemand die Leiter emporklettert.

Die Erwartung kommt auch aus der Öffentlichkeit, von uns allen: Die da oben müssen ja wissen, wo es langgeht. Das kann fatal sein, denn in trübe Wasser springt man nicht mit einem Köpfler. Sollten wir nicht zugeben, dass wir im Grunde keine Ahnung haben, wenn es um die Zukunft geht?

Komplex und mehrdeutig

Die Welt ist volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig. Lauerte diese Erkenntnis bislang hinter dem Vorhang der öffentlichen Wahrnehmung, lässt sich die Vuca-Welt – wie sie in der Managementtheorie genannt wird – jetzt nicht mehr leugnen. Unter solchen Umständen ist das Verbreiten von Gewissheiten verführerisch. Doch bräuchten wir nicht mehr und bessere Fragen als auf alles eine schnelle Antwort? Erst wenn der andere hin- und zuhört, fühlen wir uns eingeladen mitzudenken und mitzugestalten.

Für intellektuelle Eliten soll das jedoch keine Ausrede dafür sein, die Hände in den Schoß zu legen und zu sagen: Ich weiß auch nicht, wie es weitergeht. Im Gegenteil, erst durch das Formulieren und Stellen guter, neuer Fragen werden Utopien konkret und gestaltbar. (Philippe Narval, 28.11.2022)