Chinesische Polizisten blockieren im Rahmen von Demonstrationen am Sonntag eine Straße in Schanghai.

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Was sich am Wochenende in Schanghai und vielen anderen Städten Chinas abgespielt hat, ist in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen. Menschen, die auf die Straße gehen und Parolen wie "Nieder mit Xi Jinping" und "Nieder mit der KP" rufen – so etwas war im China des 21. Jahrhunderts eigentlich undenkbar. Vielleicht abgesehen von der einst autonomen Stadt Hongkong.

Proteste gibt es zwar auch auf dem Festland immer wieder. Der Kommunistischen Partei ist wohl bewusst, dass diese nicht ganz zu verhindern sind. Doch richteten sie sich stets gegen einen konkreten Missstand: Arbeiter, die gegen ein Unternehmen demonstrieren, weil sie ihre Löhne nicht erhalten. Dorfbewohner, die unter Umweltverschmutzung leiden, und seltener auch Studentenproteste. Der gewaltige Zensurapparat, der unter Xi Jinping auf- und ausgebaut worden ist, dient vor allem dazu, eine Vernetzung größerer Aktionen zu verhindern. Lokale Demonstrationen sollen lokal zu lösen sein – bevor sie sich über das ganze Land ausbreiten und der Partei gefährlich werden könnten.

Mit Panzern niedergeschlagen

Dass Menschen jetzt in mehreren chinesischen Städten auf die Straße gehen und auch noch die politische Führung angreifen, ist außerordentlich. Etwas Vergleichbares geschah zum letzten Mal 1989, als hunderttausende Studenten friedlich auf dem Platz des Himmlischen Friedens demonstrierten. Die Regierung ließ damals die Proteste mit Panzern niederschlagen. Die Worte "4. Juni" und "Tian’anmen-Massaker" sind bis heute im chinesischen Internet zensiert. Sehr erfolgreich: Viele junge Chinesen wissen tatsächlich nichts von den Ereignissen.

Wie die Regierung dieses Mal auf die Proteste reagiert, ist völlig unklar. Denkbar ist eine Mischung aus Zugeständnissen und Härte. Die Dichte an Überwachungskameras in einer Stadt wie Schanghai ist so hoch, dass wohl alle Demonstrierenden in den kommenden Tagen identifiziert und belangt werden. Aber es dürfte auch den Hardlinern in Peking bewusst werden: Die Zero-Covid-Politik ist gescheitert.

Erträgliche und dynamische Lockdowns

Gerade erst hatte die Regierung einen 20-Punkte-Plan erlassen, um die Lockdowns etwas erträglicher und dynamischer zu gestalten. Doch der gewaltige Zero-Covid-Apparat ist längst zu einem bürokratischen Monstrum gewuchert. Die Nachbarschaftskomitees, die für die Umsetzung der Regeln in jedem Wohnblock zuständig sind, scheinen damit überfordert zu sein. Wie riskant es für ein machtfixiertes Regime ist, die eigene Bevölkerung immer weiter zu gängeln, nur um eine absurde Politik durchzusetzen, dürfte seit diesem Wochenende auch dem Führungszirkel um Xi Jinping klar geworden sein.

Selbst mit einem gigantischen Überwachungsapparat, nahezu lückenloser Zensur und drakonischen Strafen lässt sich ein Volk nicht ewig mit sinnlosen Maßnahmen in Form von massiven Freiheitseinschränkungen malträtieren. Respekt und Anerkennung gebühren an dieser Stelle den Menschen, die am Wochenende in China mutig genug waren, ihre Wut und ihre Missbilligung dieser Politik zu artikulieren. (Philipp Mattheis, 27.11.2022)