José Leandro Andrade, "la maravilla negra", war ein David Beckham der ballesterischen Vorzeit. Der Uruguayer bezauberte nicht nur die vom Fußball Begeisterten.

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Dass in Südamerika gut Fußball gespielt wurde, war durchaus bekannt im Europa des Jahres 1924. Allzu ernst aber wollte man diesen Umstand nicht nehmen. Auch im Fußball hielt man Europa – genauer: hielt man sich in Europa – für den Nabel der Welt. Als also das Team von Jugoslawien im Pariser Stade de Colombes gegen Uruguay antrat, waren nicht einmal 4000 Zuschauer mit dabei. Es war der 26. Mai 1924. Am Vortag hatte das olympische Fußballturnier begonnen. Ein Sieg Jugoslawiens galt als g’mahte Wies’n.

Und dann das: Uruguay watschte die Südslawen 7:0 aus dem Stadion. Drei Tage später, im Stade Bergeyre, sahen schon 10.455 das 3:0 über die USA. Und am 1. Juni fast 31.000 das 5:1 gegen den Gastgeber. Im Finale schlugen sie die Schweiz 3:0. Paris war da schon längst entzückt. Die Uruguayer spielten nicht bloß den Fußball, sie tanzten ihn.

Ein paar Jahre später wird man auch über den Wiener Fußball lesen, was damals schon über den aus Montevideo geschrieben wurde. Ein spanischer Journalist beobachtete "Schach mit den Füßen", der Poet der "Gazzetta dello Sport" vernahm eine "musikalische Phrasierung" im Spiel. Und Gabriel Hanot, der spätere Herausgeber der "L’Équipe" und selber ein erfolgreicher Fußballer, meinte gar, die Südamerikaner wären im Vergleich zu den Europäern "wie Vollblüter neben Ackergäulen".

Unter all diesen Vollblütern, die erstmals das schnelle, ballsichere, fast körperlose Kurzpassspiel in Perfektion vorführten, stach einer noch heraus. José Leandro Andrade war der Spielmacher. Ein Pass- und Ideengeber. Und das, obwohl er laut Aufstellung stets auf der Seite der Läuferreihe zu finden war. Aber einer, der sich dort nicht hat festnageln lassen. Ganz im Gegenteil.

Der Zehner

Heute würde man sagen, er sei ein Zehner. Im Wien des erwachenden Wunderteams hieß so einer Centerhalf. In Paris 1924 nannte man ihn – so wie Tänzerin Josephine Baker übrigens – "schwarze Perle". Daheim in Uruguay spätestens seit dem Jahr zuvor "das schwarze Wunder", "la maravilla negra". 1923 holte sich Uruguay, erstmals unter Andrade, die Copa América.

Er war nicht nur der erste Schwarze im Weltfußball. Er war überhaupt einer der ersten wirklichen Stars des Fußballsports. Einer, der weit übers Spielfeld hinauswuchs. Wenn man nach einem Anfang für den popkulturellen Charakter des Fußballs sucht, wird man bei Andrade – einem David Beckham der grauen Frühzeit – wohl fündig werden.

José Leandro Andrade kam 1901 in Uruguays zweitgrößter Stadt, Salto, zur Welt. Er war ein uneheliches Kind, sein Vater angeblich ein Sklavenflüchtling aus Kuba, wo die Sklaverei erst 1886 geendet hat. Aufgezogen hat den kleinen José Leandro eine Tante in Montevideo. Er genoss, wie überliefert wurde, keine Erziehung oder Schulbildung im engeren Sinn. Früh schon schlug er sich durch die Hafenviertel Barrio Sur und Palermo, wo die kubanischen Flüchtlinge lebten. Er musizierte und sang. Er tanzte den Candombe, eine mit Trommeln begleitete afro-südamerikanische Spielart des Tangos. Dazu gründete er, so wird erzählt, eine eigene Tänzergruppe: los pobres negros cubanos, die armen schwarzen Kubaner.

Und er jagte, no na, dem Fetzenlaberl nach. Scouts lotsten ihn ins reguläre Spiel. Beim berühmten Club Atlético Peñarol startete er seine Karriere, die ihn in den Glanz, das Amouröse und Glamouröse der großen Welt führte. Und von dort wieder zurück ins Halbdunkel und in die Armut des Sklavensohns, wo sich kaum noch wer erinnern wollte an den ersten, sozusagen trans-ballesterischen Superstar.

Andrade bezauberte – so wird es etwas schwärmerisch überliefert – nicht bloß die Fußballfreunde. Schöne Frauen buhlten um den 1,80 Meter großen Ballerinus. Sidonie Gabrielle Claudine Colette, die als Colette eine gefeierte Autorin und aufregende Varietékünstlerin war, verführte den Lackel, der so elegant zu tanzen verstand. Im Matin schrieb sie, von Andrade kurzerhand auf alle schließend: "Uruguayer sind eine seltsame Kombination aus Zivilisation und Barbarei. Sie tanzen den Tango und sind wunderbar, himmlisch, besser als der beste Gigolo." Und es heißt, Colette wäre bei weitem nicht die einzige Hingerissene gewesen.

1925 tourte Nacional Montevideo, der Verein, bei dem Andrade mittlerweile sesshaft geworden war, quer durch Europa und spielte vor insgesamt 800.000 Menschen. Auch Wien war eine Station. Die Vienna empfing die Südamerikaner auf der Hohen Warte vor 50.000 und trotzte den Stars ein ehrenvolles 1:1 ab. Neun Olympiasieger traten an. "Nur Andrade, eine Art Weltwunder unter den Fußballern der Gegenwart, fehlte", bedauerte das Sport-Tagblatt. Schwer erkrankt wäre er.

Békessys Munkeln

Andere munkelten tiefer, so wie die vom Erz-Boulevardisten Imre Békessy herausgegebene Stunde. Zwar sei er Star des Olympiaturniers gewesen. Aber: "Als Fanatiker des Alkohols kommt er allerdings für aktiven Fußball nicht mehr in Betracht." Boulevardjournalismus ist der Versuch, aus einem Fünklein an Tatsache einen Großbrand an Aufgeregtheit anzublasen. Békessy – einer der Lieblingsfeinde des Karl Kraus – war ein erster Meister darin.

Andrade litt, wie viele Lebenslustige in jenen Vor-Penicillin-Zeiten, an der sogenannten Franzosenkrankheit. Dem süßen Leben zugeneigt, war ihm auch der Alkohol nichts Fremdes. Was ihn allerdings nicht daran hinderte, sein Team auch im Jahr 1928 in Amsterdam zur olympischen Titelverteidigung zu führen. Und zwei Jahre darauf, 1930, wurde er daheim in Montevideo Weltmeister des ersten vom Weltverband Fifa ausgerichteten Turniers.

Er war, so überlieferten es jene, die dabei waren, von Turnier zu Turnier langsamer geworden. Aber die Balltechnik und die Fähigkeit, das Spiel gestaltend zu erkennen, reichten hin, der Fußballwelt weiterhin einen Haxen auszureißen.

Selbst 1950, als Uruguay in und gegen Brasilien neuerlich Weltmeister wurde, war Andrade mit dabei. Der Verband hatte seinen bis dahin Größten eingeladen. Der linke Halfback mit Zug ins Zentrum hieß damals Víctor Rodríguez Andrade. Es war der Neffe.

Tod in Armut

Danach wurde es still um den Beherrscher des Weltfußballs in den 1920er-Jahren. Man vergaß ihn selbst in Montevideo nach und nach. Der deutsche Journalist und Fußballer Fritz Hack, der viele Jahre in Südamerika lebte, hatte sich 1956 tagelang suchend durch Montevideo gefragt. Ein Tipp führte ihn schließlich in eine verfallene Souterrainwohnung. Andrade war schwerkrank, vom Alkohol und der Syphilis gezeichnet, halb erblindet, völlig mittellos. Im Oktober 1957 starb "la maravilla negra" in einem Armenhaus an Tuberkulose.

Die Fifa hat die olympischen Fußballturniere 1924 und 1928 als Weltmeisterschaften anerkannt. Das Team vom Río de la Plata darf darum das Trikot mit vier Sternen schmücken. Drei davon wurden unter José Leandro Andrade erspielt. (Wolfgang Weisgram, 28.11.2022)