Obwohl noch ein gutes halbes Jahr Zeit ist bis zu den kommenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, hat der Wahlkampf in der Türkei längst begonnen. Erstmals nach fast 20 Jahren, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Türkei regiert, scheint ein Machtwechsel denkbar. Noch nie in den Jahren seiner Herrschaft waren seine Zustimmungswerte in der Bevölkerung so schlecht, und das hat vor allem einen Grund: die katastrophale wirtschaftliche Lage für den größten Teil der Wähler. Die Inflation liegt offiziell bei 85 Prozent, doch viele unabhängige Wirtschaftsexperten halten die reale Inflation für noch wesentlich höher.

Insbesondere bei Lebensmitteln liege die Teuerungsrate bei rund 150 Prozent, ebenso bei Energiekosten und anderen notwendigen Gütern des täglichen Bedarfs. Die Türken müssen aber gar nicht erst groß Statistiken lesen, es reicht ein Gang in den nächsten Supermarkt. Nahezu täglich steigen hier die Preise.

Weil der tägliche Kampf um ein auskömmliches Essen insbesondere bei den ärmeren Schichten immer dramatischer wird und deshalb die Wut auf die Regierung wächst, hat die Erdoğan-Regierung für das bevorstehende Wahljahr, in dem auch noch der hundertste Jahrestag der Gründung der Republik gefeiert wird, eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, die die Folgen der Inflation für das untere Drittel der Gesellschaft, aber auch für den Mittelstand abmildern sollen.

Auf den Märkten ziehen die Preise enorm an – ebenso in den Supermärkten. Gegen unzulässige Preistreiberei will Erdoğan nun vorgehen.
Foto: EPA / Erdem Sahin

Ein Schritt ist der Kampf gegen die angebliche Preistreiberei großer Supermarktketten. Inspektoren des Handelsministeriums kontrollieren seit Monaten bei unangekündigten Besuchen die Preise und vergleichen sie mit der Konkurrenz. Bei "unzulässiger Preistreiberei" werden Geldbußen verhängt. Das hat aber bislang nichts daran geändert, dass in allen Supermärkten und selbst auf Wochenmärkten die Preise ständig weiter steigen. Deshalb hat Erdoğan jüngst gefordert, die Strafen zu verschärfen. In der Kabinettssitzung diese Woche könnte daher ein Dekret beschlossen werden, das in letzter Konsequenz selbst die Schließung einer ganzen Supermarktkette zur Folge haben kann, wenn diese der Preistreiberei überführt wird.

Wer ist Schuld?

Dass dadurch die Preisspirale gestoppt werden kann, glaubt zwar von den gebildeten Leuten niemand, aber bei seinen armen Anhängern mag der Präsident damit tatsächlich punkten. Die Botschaft ist klar: Nicht die Wirtschaftspolitik der Regierung ist schuld, sondern die gierigen Betreiber der Supermärkte. Selbst wenn Erdoğan in den kommenden Wochen publikumswirksam ein Exempel statuieren sollte, werden die Preise weiter steigen. Denn angesichts der exorbitanten Inflation kann eine Preisexplosion nur in punktuellen Fällen durch massive Subventionen gestoppt werden. Das ist etwa bei den Spritpreisen der Fall. Durch Steuersenkungen hat die Regierung die Preise für Benzin, Diesel und Autogas seit einigen Monaten konstant gehalten.

Für den Wahlkampf soll auch die Mehrwertsteuer auf etliche Lebensmittel gesenkt werden, teilweise wird das durch noch höhere Steuern bei alkoholischen Getränken und Tabakwaren kompensiert.

Leitzins drastisch gesenkt

Denn die Inflation selbst zu bekämpfen, hat Erdoğan nicht vor. Dafür müssten nach allgemeiner ökonomischer Lehrmeinung die Zinsen angehoben werden, doch es passiert das Gegenteil: Heuer hat die Zentralbank auf Geheiß Erdoğan die Leitzinsen von rund 19 Prozent auf neun Prozent gesenkt, im letzten Schritt am Donnerstag vergangener Woche. Das treibt den Verfall der türkischen Lira immer weiter voran.

Bekam man Ende letzten Jahres noch einen Euro für rund zehn Lira, muss man jetzt das Doppelte zahlen.
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Das Ergebnis ist dramatisch. Bekam man Ende letzten Jahres noch einen Euro für rund zehn Lira, muss man jetzt das Doppelte zahlen. Das verteuert die Importe und Erzeugerpreise enorm, und entsprechend werden auch die Preise in den Supermärkten weiter steigen. Die türkische Regierung weiß das natürlich, aber Erdoğan setzt darauf, dass billige Kredite die Produktion im Land ankurbeln und die Exporte steigen lassen. So soll Wachstum generiert und die hohe Arbeitslosigkeit von rund zehn Prozent allgemein und 20 Prozent bei Jugendlichen reduziert werden. Tatsächlich hatte die Türkei in den ersten beiden Quartalen 2022 mit 7,5 Prozent die höchste Wachstumsrate von allen G20-Staaten. Doch Wachstum ist nicht mehr gleich Wohlstand. Denn die Jobs der überwiegenden Anzahl der Beschäftigten sind angesichts der Inflation und steigenden Preise überaus schlecht bezahlt.

Flucht aus dem Land

Hochqualifizierte Ingenieure, IT-Fachleute und Mediziner verlassen deshalb das Land. Auch die Ratingagenturen bewerten das durch die Inflation erkaufte Wachstum negativ und haben die Türkei längst auf Ramschniveau herabgestuft. Da ausländische Investoren aufgrund dessen fehlen, bedient sich die Regierung insbesondere für die Wahlen der eigenen Gelddruckpressen. Mit dem frischen Geld hat Erdoğan ein großes Neubauprogramm für Sozialwohnungen angekündigt. Die Wohnungen werden zu günstigen Konditionen bereits im Vorfeld verkauft, die Nachfrage ist riesig. Viele Interessenten werden denken, eine neue Regierung führt das Programm vielleicht nicht fort, und wählen dann doch lieber die alte. Eine Erhöhung des Mindestlohns und der Pensionen ist ebenfalls in Vorbereitung. Erdoğan setzt darauf, sich das Wohlwollen der Wähler zurückzukaufen. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 28.11.2022)