In Peking gingen Demonstrierende mit weißen Zetteln auf die Straße: Damit wollen sie ihren Protest gegen die Zensur zum Ausdruck bringen. Weiß ist in China außerdem die Farbe der Trauer.

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Es sind Bilder, wie man sie aus China seit über 30 Jahren nicht gesehen hat: Eine wütende Menge skandiert Parolen wie "Freiheit", "Nieder mit Xi Jinping", "Nieder mit der kommunistischen Partei" und "Freiheit für Xinjiang". In mehreren Städten sind seit Samstag tausende Menschen auf den Straßen, um gegen die Zero-Covid-Politik des Landes zu protestieren.

Zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens hatten sich in der Nacht von Samstag auf Sonntag immer mehr Menschen auf der Kreuzung Anfu Lu und Wulumuqi Lu in Schanghai versammelt. Sie hatten zunächst Teelichter aufgestellt und Blumen niedergelegt. Schnell aber waren die Slogans politisch geworden und richteten sich gegen die Herrschaft der Partei. Manche stellten sich der Polizei direkt entgegen, andere sangen die Nationalhymne.

Auch am Sonntag versammelten sich wieder Menschen auf der Straße. Die Polizei aber hatte offensichtlich die Kontrolle wieder übernommen und nahm zahlreiche Personen fest. Nach wie vor ist die Situation aber angespannt. Videoaufnahmen zeigen, dass es auch in dieser Nacht immer wieder zu kleinen Zusammenstößen kam. Die Polizei hat zudem Barrikaden errichtet.

Symbolträchtiger Beginn

In Schanghai begannen die Proteste nicht ohne Grund auf der Wulumuqi Lu. Die belebte Straße ist aufgrund ihrer vielen Cafés und Restaurants bei Chinesen und Ausländern eine beliebte Ecke in der ehemaligen französischen Konzession der Stadt. Wulumuqi ist der chinesische Name von Ürümqi, Hauptstadt der Region Xinjiang. Dort war am vergangenen Donnerstag in einem Wohnhaus ein Feuer ausgebrochen. Aufgrund der Lockdown-Maßnahmen in Form von Straßensperren und Kontrollen konnte es nicht schnell genug gelöscht werden, und mindestens zehn Menschen starben. Videos zeigten eine Frau, die aus einer brennenden Wohnung um Hilfe schreit. In Ürümqi herrscht schon seit über 100 Tagen strikter Corona-Lockdown. Immer wieder dringen vereinzelt Berichte von Verzweifelten nach außen. Schon in der Nacht auf Freitag hatten dort Proteste begonnen.

Inzwischen haben die Demonstrationen auch andere Städte erreicht. An der Tsinghua-Universität, der wichtigsten Uni des Landes, versammelten sich mehrere Tausende Menschen. An anderer Stelle traten Demonstranten Covid-Absperrungen nieder. Ähnliches geschieht derzeit wohl in Nanjing, Chengdu, Wuhan und Xian. Viele Menschen halten ein weißes Blatt Papier in die Höhe. Damit wollen sie ihren Protest gegen die Zensur zum Ausdruck bringen. Weiß ist in China auch die Farbe der Trauer.

Die Corona-Infektionszahlen im Land haben diese Woche einen Höchstwert erreicht. Die Regierung vermeldete vergangene Woche 35.000 Neuinfektionen, ein Rekordwert für China – im internationalen Vergleich und an der Bevölkerungszahl gemessen noch immer niedrig.

Die Zero-Covid-Politik der chinesischen Regierung scheint sich auf einen Wendepunkt zuzubewegen. Die Regierung in Peking setzt seit drei Jahren auf das umstrittene Konzept "dynamischer Lockdowns". Im Fall von Corona-Infektionen werden betroffene Stadtviertel abgeriegelt. Die Bewohner müssen sich zu PCR-Tests einfinden.

Quarantänelager

Wer positiv auf das Virus getestet wird, muss für mehrere Tage in eines der überall aus dem Boden sprießenden Quarantänelager. Derzeit befinden sich etwa 400 Millionen Menschen in einem Lockdown. Auch wirtschaftlich wird der Preis für diese Politik immer höher. Vergangene Woche waren Proteste bei einem Foxconn-Werk bei Zhengzhou ausgebrochen und hatten die Produktion des Apple-Zulieferers stark beeinträchtigt. Gerade erst hatte die Regierung deswegen einen 20-Punkte-Plan erlassen, um die Maßnahmen etwas erträglicher zu gestalten. Doch es scheint Probleme bei der Umsetzung zu geben.

Aus für viele Beobachter nur schwer nachvollziehbaren Gründen hält Peking an ihrer Zero-Covid-Politik fest. Ausländischen mRNA-Impfstoffen traut die Regierung nicht. Mit der Entwicklung des Virus hin zu einer schnelleren Übertragbarkeit bei gleichzeitig geringer werdender Letalität kommt China nun nicht mehr hinterher.

Immer mehr Menschen sind Lockdowns, Zwangsisolation und strikte Überwachung in Form des "Gesundheitscodesystems" leid. Hinzukommen dürfte die Fußball-WM. Millionen Chinesen verfolgen die Spiele und sehen, dass das Publikum in den Stadien keine Masken trägt. (Philipp Mattheis, 27.11.2022)