Das Schriftstück lag in der Stanislas-Bibliothek in Nancy.
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Karl V. war ein echter Habsburger, inklusive der markanten und auf Inzucht unter den Adeligen zurückzuführenden Unterlippe. Nachdem der Sohn Philipps des Schönen von Kastilien und Johanna der Wahnsinnigen mit nur 16 Jahren zum König von Spanien aufstieg, folgte 1530 die Krönung zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Eine seiner vielen Aktivitäten war die Finanzierung der ersten Weltumseglung durch den Portugiesen Fernando de Magellan. Seine Herrschaft war von bitteren Machtkämpfen geprägt, vor allem zwischen Spanien und Portugal, die sich daranmachten, die kurz vor Karls Geburt von Kolumbus entdeckte neue Welt unter sich aufzuteilen.

Doch vor allem vonseiten Frankreichs drohte Gefahr. Das belegt ein bemerkenswerter Brief, dessen Inhalt nun nach 500 Jahren erstmals bekannt ist. Die Kryptologin Cécile Pierrot vom Forschungszentrum Loria, das zur französischen Universität Lorraine gehört und auf Computerwissenschaften spezialisiert ist, hörte erstmals 2019 von dem Brief und machte sich auf die Suche nach dem Schriftstück, das sie erst zwei Jahre später in der Stanislas-Bibliothek in Nancy aufspürte, wie sie vergangenen Mittwoch bei einer Präsentation der Ergebnisse erklärte.

Karl V. herrschte über 40 Jahre lang in Spanien. Von 1530 bis 1556 war er Kaiser des Heiligen Römischen Reichs.
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Der Brief, der aus dem Jahr 1547 stammt, ist an den spanischen Botschafter in Frankreich, Jean de Saint-Mauris, adressiert. Die nun mithilfe von Computermethoden gelungene Entschlüsselung offenbart das Ausmaß der kaiserlichen Paranoia. So nutzte er etwa mehrfach sinnlose Zeichen, um Verwirrung zu stiften. Insgesamt 120 Zeichen konnte Pierrot identifizieren, dabei auch solche, die für ein ganzes Wort stehen. Dazu kam die Tatsache, dass Vokale keine eigenen Buchstaben erhielten, sondern durch Markierungen angedeutet wurden, eine Praxis, die offenbar vom Arabischen inspiriert war. Beide Aspekte, das Fehlen von Vokalen und die Kombination von Bild- und Buchstabenschrift, sind für die Kryptografie ungewöhnlich und sonst eher von antiken Schriftsystemen wie den Hieroglyphen oder der Keilschrift bekannt.

Durchbruch nach sechs Monaten

Sechs Monate arbeitete Pierrot gemeinsam mit der Historikerin Camille Desenclos an der Entschlüsselung. Der Durchbruch gelang, als eine einzelne Passage übersetzt werden konnte. Desenclos beschreibt einen "Heureka"-Moment, als sie plötzlich die richtige Idee hatten.

Das Schriftstück gibt Einblick in die Spannungen zwischen Karl und dem französischen König Franz I., der heute als Schöngeist bekannt ist und durch seine Bautätigkeit im französischen Schloss Fontainebleau, für das er italienische Künstler kommen ließ und so den Barockstil entscheidend prägte. Er war es auch, der Leonardo da Vinci nach Frankreich einlud. Da Vinci folgte dem Ruf, mit der "Mona Lisa" und anderen Bildern im Gepäck.

Franz und Karl hatten eigentlich drei Jahre zuvor einen Friedensvertrag geschlossen, doch Karl schien an den Absichten des französischen Amtskollegen zu zweifeln. Er befürchtete sogar ein Mordkomplott, beides Grund genug, um sich mit seinem Botschafter nur in verschlüsselter Form zu unterhalten.

Computerwissenschafterin Pierrot präsentierte den Brief am 23. November.
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Verschlüsselte Kommunikation war seit der Antike keine Seltenheit. Auch Marie Antoinette oder Maria Stuart bedienten sich Geheimschriften, um politisch Brisantes oder Privates vor neugierigen Blicken zu verbergen. Ein heute als Kinderspiel bekannter Code trägt den Namen Julius Caesars, den dieser laut Beschreibungen des Schriftstellers Sueton für militärische Nachrichten verwendete. Dabei werden zwei Alphabete einfach gegeneinander verschoben, wobei jeder Buchstabe durch einen um eine festgelegte Anzahl von Plätzen neben ihm stehenden ersetzt wird. Durch Zählen der Buchstaben lassen sich diese aber leicht anhand ihrer Häufigkeit identifizieren. Sobald aber große Schlüssel oder Kombinationen verschiedener Methoden wie in Karls Brief verwendet werden, kann die Entzifferung sehr schwierig werden. Einige historische Dokumente warten nach wie vor auf ihre Entschlüsselung.

Weitere Briefe

Pierrot beschäftigt sich für gewöhnlich nicht mit der Entzifferung alter Schriften. Sie konzentriert sich auf zeitgenössische Codes, die sie mit Mitteln der Mathematik und der Computerwissenschaften untersucht. Den Ausflug in die Welt der historischen Kryptologie könnte sie aber wiederholen. Sie hofft auf das Auffinden weiterer Briefe, die mehr Einblick in die Politik Karls geben.

Etwa 130 Symbole unterschieden die beiden Wissenschafterinnen. Sie bezeichneten zum Teil ganze Wörter.
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Ein erfolgreiches Mordkomplott gab es allerdings nie: Karl V. regierte über 40 Jahre und starb 1558, nachdem er zwei Jahre zuvor abgetreten war. Die Todesursache konnte 2007 durch Untersuchung eines mumifizierten Fingerglieds ermittelt werden: Es war die damals in Spanien verbreitete Malaria. (Reinhard Kleindl, 29.11.2022)