Der ehemalige griechische Finanzminister und Vorsitzende der Partei MeRA25, Yanis Varoufakis, beschreibt in seinem Gastkommentar, was Elon Musk mit dem Kauf von Twitter bezwecken könnte.

Geht auf "Alles": "Chief Twit" Elon Musk.
Foto: AFP / Jim Watson

Es ist gut nachvollziehbar, warum Elon Musk so unzufrieden war, dass er für 44 Milliarden US-Dollar Twitter kaufte. Er hat Pionierarbeit im Online-Zahlungsverkehr geleistet, die Autoindustrie auf den Kopf gestellt, die Raumfahrt revolutioniert und sogar mit ehrgeizigen Hirn-Computer-Schnittstellen experimentiert. Doch weder seine Leistungen noch sein Reichtum verschafften ihm Zugang zur neuen herrschenden Klasse derjenigen, die sich die Kräfte des cloudbasierten Kapitals zunutze machen. Twitter bietet Musk eine Chance, sich Genugtuung zu verschaffen.

Seit den Anfängen des Kapitalismus beruhte Macht auf dem Besitz von Kapitalgütern. Heute ist es das cloudbasierte Kapital, kurz Cloud-Kapital, das seinen Besitzern bisher unvorstellbare Macht verleiht. Denken Sie an Amazon mit seinem Netzwerk aus Software, Hardware und Warenlagern – und an sein Alexa-Gerät, das auf unserem Küchentisch steht und mit uns kommuniziert. Es handelt sich um ein cloudbasiertes System, das in der Lage ist, unsere Emotionen tiefer zu erforschen, als jeder Werbetreibende es je könnte.

"Das Cloud-Kapital hat hunderte Millionen von uns in Cloud-Leibeigene verwandelt – unbezahlte Produzierende, die auf den digitalen Ländereien der Grundherren schuften."

Im Gegensatz zum altmodischen, terrestrischen Kapital, das auf die Herstellung von Dingen hinausläuft, die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen, funktioniert Cloud-Kapital als produziertes Mittel zur Veränderung unseres Verhaltens entsprechend den Interessen seiner Besitzer. Ein und derselbe Algorithmus, der auf demselben Labyrinth aus Serverfarmen, Glasfaserkabeln und Mobilfunkmasten läuft, vollbringt mehrere Wunder gleichzeitig.

Das erste Wunder des Cloud-Kapitals besteht darin, uns dazu zu bringen, kostenlos zu arbeiten, um seinen Bestand, seine Produktivität mit jedem Text, jeder Bewertung, jedem Foto oder Video, das wir über seine Schnittstellen erstellen und hochladen, aufzufüllen und zu verbessern. So hat das Cloud-Kapital hunderte Millionen von uns in Cloud-Leibeigene verwandelt – unbezahlte Produzierende, die auf den digitalen Ländereien der Grundherren schuften und wie die Bauern im Feudalismus glauben, dass unsere Arbeit – das Erstellen und Teilen unserer Fotos und Meinungen – Teil unseres Wesens ist.

Keine Märkte

Das zweite Wunder ist die Fähigkeit des Cloud-Kapitals, uns das Objekt der Begierden, die es in uns geweckt hat, zu verkaufen. Amazon, Alibaba und ihre vielen E-Commerce-Nachahmer mögen für das ungeschulte Auge wie monopolisierte Märkte aussehen, aber sie sind keine. Selbst auf Märkten, die von einem einzigen Unternehmen oder einer einzigen Person beherrscht werden, können Menschen einigermaßen frei interagieren. Sobald Sie dagegen eine Plattform wie Amazon betreten, isoliert der Algorithmus Sie von allen anderen Käuferinnen und Käufern und füttert Sie ausschließlich mit den Informationen, die seine Eigentümer für Sie persönlich bereithalten. Käuferinnen und Käufer können nicht miteinander reden, keine Zusammenschlüsse bilden oder sich anderweitig organisieren, um einen Verkäufer zu zwingen, einen Preis zu senken oder die Qualität zu verbessern. Auch die Verkäufer stehen in einer Eins-zu-eins-Beziehung mit dem Algorithmus und müssen dessen Eigentümer bezahlen, um ein Geschäft abzuschließen.

"Zum Leidwesen des Enfant terrible der Geschäftswelt fehlte ihm ein Eingangstor zu den gigantischen Vorteilen, die Cloud-Kapital bieten kann. Bis jetzt: Twitter könnte dieses fehlende Tor sein."

Musk ist vielleicht der einzige Tech-König, der dem Siegeszug dieses neuen Technofeudalismus von der Seitenlinie zugesehen hat. Sein Autokonzern Tesla nutzt die Cloud geschickt, um seine Autos zu Knotenpunkten eines digitalen Netzwerks zu machen, das große Datenmengen erzeugt und die Fahrer an Musks Systeme bindet. Sein Raketenunternehmen Space X und seine Satelliten in erdnaher Umlaufbahn tragen wesentlich zur Entwicklung des Cloud-Kapitals anderer Mogule bei. Musk hingegen? Zum Leidwesen des Enfant terrible der Geschäftswelt fehlte ihm ein Eingangstor zu den gigantischen Vorteilen, die Cloud-Kapital bieten kann. Bis jetzt: Twitter könnte dieses fehlende Tor sein.

Endlose Debatte

Unmittelbar nach der Übernahme bekräftigte Musk sein Engagement für den Schutz von Twitter als "öffentlichem Platz", auf dem alles und jedes diskutiert wird. Eine kluge Taktik, die von der Debatte darüber ablenkte, ob die Welt ihr führendes Kurznachrichtenforum einem Mogul anvertrauen sollte, der in der Vergangenheit in ebendiesem Forum leichtfertig mit der Wahrheit umgegangen ist.

Liberale regen sich über die Wiederherstellung des gesperrten Accounts von Donald Trump auf. Die Linke quält sich mit dem Aufstieg einer technikaffinen Version von Rupert Murdoch. Anständige Menschen aller Couleur beklagen die schreckliche Behandlung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Twitter. Und Musk? Er scheint das Wesentliche im Auge zu behalten: In einem aufschlussreichen Tweet gestand er sein Ziel, Twitter in eine "Alles-App" zu verwandeln. Eine "Alles-App" ist meiner Definition nach nichts Geringeres als ein Tor zum Cloud-Kapital, das es seinem Besitzer ermöglicht, das Verbraucherverhalten zu ändern, kostenlose Arbeit von Nutzerinnen und Nutzern abzuschöpfen und nicht zuletzt Anbietern eine Art Cloud-Miete für den Verkauf ihrer Waren zu berechnen. Zuvor hatte Musk nichts besessen, was sich zu einer "Alles-App" entwickeln könnte, und auch keine Möglichkeit, eine solche zu erschaffen.

Wahre Macht

Musks Herausforderung besteht nun darin, Twitters eigenes Cloud-Kapital zu mehren. Kann er die Nerven der verbleibenden Twitter-Mitarbeiterschaft beruhigen, wird seine nächste Aufgabe darin bestehen, Bots zu eliminieren und Trolle auszusortieren, damit das neue Twitter die Identität seiner Nutzerschaft kennt. In einem Brief an Werbekunden stellte Musk zu Recht fest, dass irrelevante Werbung Spam ist, relevante Werbung hingegen Content. In diesen technofeudalen Zeiten bedeutet dies, dass Nachrichten, die das Verhalten nicht ändern können, Spam sind, aber solche, die das Denken und Handeln der Menschen beeinflussen, der einzige Content sind, der zählt: wahre Macht.

Als privates Lehen konnte Twitter nie der öffentliche Platz der Welt sein. Darum ging es auch nie. Vielmehr geht es um die Frage, ob Twitter Musk eine sichere Mitgliedschaft in der neuen technofeudalen Herrscherklasse bescheren wird. (Yanis Varoufakis, Übersetzung: Sandra Pontow, Copyright: Project Syndicate, 29.11.2022)