Es sind Bilder aus einer anderen Zeit, die auf Google Maps angezeigt werden: Swjatohirsk, ein idyllischer Erholungsort mit Hotels und viel Wald. Ein historisches Kloster erhebt sich mit goldenen Kuppeln majestätisch über den Ort. Mit Wehmut erzählt Igor Ponomarenko von der Zeit, als diese Bilder noch Realität waren. "Hier waren überall Menschen", sagt der 51-Jährige und zeigt um sich. Ponomarenko, Dreitagebart, freundliches Gesicht, steht im Zentrum der Kleinstadt und sucht vergebens nach einem Haus, das von den Kämpfen der vergangenen neun Monate verschont geblieben ist.

Drei Monate lang war der Ort mit seinen rund 4.500 Einwohnern unter russischer Kontrolle. Und der Fluss Siwerskyj Donez, der zwischen Wohngebiet und Kloster fließt, die Frontlinie. Die russische Armee auf der linken Seite, die ukrainische auf der rechten. Sie lieferten sich heftige Gefechte. Mehr als vierzig Menschen sind hier während des Krieges gestorben. "Liudy" ("Leute") haben manche in ihrer Verzweiflung auf die Gartentore und Hausmauern geschrieben, in der Hoffnung, so nicht zum Ziel zu werden.

Nun stehen Menschen in Swjatohirsk nur noch um Lebensmittel an.
Foto: Astrig Agopian

Eine Horde Orks

Während die Region Donbas im Osten der Ukraine gemeinhin als industrielle Gegend und für den Kohleabbau bekannt ist, hat Swjatohirsk bis zum russischen Angriffskrieg Touristen aus dem ganzen Land angezogen. Heute ist alles anders. Restaurants, Hotels, Läden – niedergebrannt, zerbombt, geplündert. "Man kann sagen, dass hier eine Horde Orks durchgezogen ist", sagt Ponomarenko. Orks – Vollstrecker des Bösen in Der Herr der Ringe. So werden die russischen Soldaten von den Ukrainern genannt. "Sie haben Armut hinterlassen und eine Rückkehr in die Vergangenheit. Wir brauchen jetzt Stromgeneratoren. Wir haben kein Licht, kein Abwassersystem, kein fließendes Wasser, keinen Handyempfang." Ponomarenko kämpft nun dafür, dass der Ort nicht ausstirbt. Er ist einer von etwa 650 Menschen, die noch immer in Swjatohirsk leben. Vor einem Monat hat er einen Imbissstand eröffnet.

"Was darf es heute sein?", fragt er einen jungen Mann in Camouflage und grillt das Fleisch, das er in der Stadt Charkiw eingekauft hat. "Schaschlik? Suppe? Kommt sofort." Wie jeden Tag versammeln sich ukrainische Soldaten vor seinem Laden. Drinnen, in den Räumlichkeiten des von den Besitzern verlassenen Kaffeehauses, sucht Ponomarenko nach Plastikgeschirr und Salz. Er trägt eine Stirnlampe. Denn die Deckenbeleuchtung lässt sich schon seit Monaten nicht mehr einschalten. Durch die Fensterscheiben ziehen sich feine Risse, die mit Klebeband zusammengehalten werden. Für die Anwohner ist der Imbissstand ein Lichtblick, ein sozialer Treffpunkt, der letzte im Ort.

Nichts als Schulden

Bis zu 30.000 Menschen kamen vor dem Krieg in Ponomarenkos Vergnügungspark am Rande der Ortschaft. Ein Ort, an den einst vor allem Tagesausflügler aus der Oblast Charkiw anreisten, sowie aus den Oblasten Luhansk und Donezk, in denen der Krieg schon seit dem Jahr 2014 wütet. Die Kletterwand steht noch. Die Seilbrücken, auf denen die Kinder früher von Baum zu Baum turnen konnten, sind abgebrannt. Der Krieg hat das meiste, das Ponomarenko über Jahre aufgebaut hat, verwüstet. Zurück bleibt ein Unternehmer, der noch immer sein Darlehen abzahlen muss. 180.000 Grywna ist Ponomarenko der Bank schuldig – umgerechnet etwa 4.700 Euro. "Den Vergnügungspark gibt es nicht mehr, aber die Schulden muss ich trotzdem zahlen", sagt er. "In den neun Jahren, in denen ich diesen Park betreibe und das Gelände vom Staat pachte, habe ich circa 300.000 Dollar ausgegeben. Ich will, dass Russland mir das alles zurückzahlt." Doch darüber, wer die Schuld an diesem Krieg trägt und wer zur Verantwortung gezogen werden soll, sind sich im Ort längst nicht alle einig.

Vor dem Krieg betrieb Igor Ponomarenko einen Vergnügungspark.
Foto: Astrig Agopian

Auf der anderen Seite des Flusses steht die Pensionistin Vera Larina, Mitte sechzig, auf dem Parkplatz des Klosters. Die zierliche Frau ist eine von etwa 200 Zivilisten, die seit dem Krieg obdachlos und hier untergekommen sind. Ohne Strom, ohne Handyempfang. "Für uns ist es schwierig", sagt die frühere Musiklehrerin. "Wir haben kein Zuhause mehr."

Larina stammt aus dem Dorf Bohorodytschne, dessen Namen auf Deutsch "Mutter Gottes" bedeutet. Vor dem Krieg konnte man die Ortschaft vom Kloster aus mit dem Auto in einer Viertelstunde erreichen. "Ich habe mit anderen Anwohnern in unserer Kirche gelebt", erzählt Larina über die letzten Wochen in ihrem Heimatdorf. "Mit mir waren alte Menschen, Menschen mit Behinderung, Kinder. Aber sie haben die Kirche immer weiter bombardiert, Tag und Nacht, bis die Wände zusammengefallen sind." Anfang Juni wurde das Dorf von russischen Truppen angegriffen. Larina jedoch ist überzeugt, dass die Angriffe von der ukrainischen Armee gestartet wurden. "Das alles ist schwer zu verstehen. Vor dem Krieg haben wir alle friedlich zusammengelebt, die Westukrainer und wir im Donbass."

Viele der mittellosen Menschen, die mit Larina leben, sympathisieren mit Russland. Das Kloster selbst wird von der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats kontrolliert und wurde von den ukrainischen Behörden wiederholt als prorussisch kritisiert.

Am Nachmittag fährt draußen auf dem Parkplatz ein Kleinbus vor und bringt humanitäre Güter. Dutzende Frauen kommen aus dem Komplex und warten auf die Ausgabe von Lebensmitteln und Kleidung. Auch Vera Larina. Mit einem Lächeln bringt sie die Kartonschachtel und will zeigen, was sich darin befindet. Pasta, Reis. Plötzlich nähert sich von hinten ein Wachmann und sagt: "Du gibst keine Interviews mehr, verstanden?"

Die Pensionistin Vera Larina lebt im Kloster von Swjatohirsk.
Foto: Astrig Agopian

Das Kloster und die darin lebenden Mönche unterliegen einer strengen Hierarchie. Auch deshalb wollen an diesem Tag die wenigsten mit Medien sprechen. Dabei ist das Kloster selbst eine von landesweit 270 religiösen Stätten, die laut dem ukrainischen Staatsdienst für Ethnopolitik und Gewissensfreiheit in der Zeit zwischen dem 24. Februar und dem 20. September ganz oder teilweise zerstört wurden. Drei Mönche und zwei Nonnen kamen im Juni ums Leben.

Misstrauen gegenüber der Kirche

Wie groß das Misstrauen gegenüber der orthodoxen Kirche ist, zeigte sich bereits in den ersten Monaten des Krieges. Der Gemeinderat der westukrainischen Stadt Lwiw hat der orthodoxen Kirche, die mit Moskau verbunden ist, bereits Ende Juni sämtliche Tätigkeiten verboten. "Welche Rolle und welchen Einfluss das Kloster hat, ist sehr schwierig zu beantworten", sagt Wolodymyr Ribalkin. Im Frühjahr war er Kommandant der territorialen Verteidigungskräfte in Swjatohirsk, nun leitet er die hiesige Militäradministration. "Das Kloster untersteht dem Moskauer Patriarchat – und Punkt." Die Menschen, die dorthin geflohen sind, haben auf die "Russki Mir", das ideologische Konzept der "Russischen Welt", gewartet. Aber die ist nicht gekommen.

"Die Frage nach der Rolle des Klosters wird dann gestellt, wenn der Krieg und die Kämpfe im Territorium des Landes vorbei sind", erklärt Ribalkin. Derzeit fokussiert sich die lokale Verwaltung kurz vor dem bevorstehenden Winter vor allem auf die Evakuierung jener, die im Ort zurückgeblieben sind. Doch viele weigern sich zu gehen. Darunter auch Igor Ponomarenko: "Selbst wenn hier nichts mehr steht – ich habe einen Kessel, und ich werde mich daneben stellen und kochen." (Daniela Prugger aus Swjatohirsk, 29.11.2022)