Ein Repräsentant Frankreichs ohne exekutive Funktionen: Benoît Magimel versucht in "Pacifiction" als Hochkommissar zwischen den diversen Fraktionen auf Tahiti zu vermitteln.

Viennale

Südseeträume sind auch nur Schäume. Für diese Einsicht ist der Rucki Zucki Palmencombo bis heute zu danken, sie wurde zuletzt auch in der Streamingserie The White Lotus veredelt. In dem neuen Film des katalanischen Kinointellektuellen Albert Serra werden die Südseeträume ihrem Namen nun mehr als gerecht: Pacifiction nimmt sich für seine pazifischen Fiktionen alle Freiheiten dessen, was wir aus Träumen über unsere Erfindungsgabe wissen.

Das heißt: Das, was erzählt wird, darf ruhig auch erst auf einer höheren Ebene zusammenpassen, für die es im Film aber deutlich zu heiß ist. Das Kino ist kein Medium, das Luftdruckverhältnisse und Feuchtigkeit abbilden könnte, es sei denn, als Schweißfilm auf der Haut eines weißen Mannes, den es unter eine gefährliche Sonne verschlagen hat. Für Pacifiction gibt es noch eine andere Skala, an der man die besonderen Verhältnisse auf Tahiti und auf anderen Inseln in Französisch-Polynesien ablesen könnte: einen Trägheitsindex, eine Messlatte für fehlende Zielstrebigkeit auch bei der Entwicklung einer Erzählung, die nie so richtig zu einem konkreten Ergebnis kommt, die aber gerade deswegen aber den Genius des Orts besonders gut trifft.

Queere Atmosphäre

In den Mittelpunkt stellt Serra einen französischen Diplomaten namens De Roller (Benoît Magimel), der als Hochkommissar seine Republik vertritt. Unter anderem soll er die Voraussetzungen für die Errichtung eines Kasinos schaffen, von dem er sich Steuereinnahmen verspricht. Ein örtlicher Pfarrer will nicht, dass seine Herde sich beim Glücksspiel irdische Hoffnungen macht, da muss De Roller dann doch einmal auch gröbere Argumente geltend machen. Bei einer Sitzung lässt er andererseits geduldig eine längere, nicht untertitelte Stellungnahme in der knackenden Landessprache eines stark bemalten Mannes mit imposantem Zahnwerk (Tigerhai?) an seiner Halskette über sich ergehen.

Eigentlich aber spricht De Roller lieber selbst, gern auch von sich, nicht immer ist er dabei konzis. Eine Schriftstellerin, die er zum Repräsentieren eingeflogen hat, stellt er so vor, als wäre er das wahre Genie, er kommt aber halt nicht so recht zum Schreiben. Weil er nämlich viel im Morton’s herumhängen muss, einem Club, in dem eine stark queere Atmosphäre herrscht, wie das halt so ist, wenn das männliche Personal nur weiße Unterhosen trägt und ein Ladyboy die auffallendste Erscheinung ist.

Die Europäer mischen sich unter die deutlich zielgruppenorientiert gekleideten Einheimischen, sie verbuschen ein wenig, wie man das mit einem einschlägigen Begriff benennen könnte. Zugleich ziehen die Europäer ihr typisches Ding ab: Große Politik von weither betrifft auch Tahiti, ein Admiral labert die ganze Zeit von geplanten Atomwaffenversuchen und schart auch eine seltsame Elitetruppe um sich. Geheimdienst ist der Brotberuf der Wirtschaftsvertreter in der kolonialen Welt, das gilt auch hier, zwischen den Atollen, fernab der Machtzentren. Arbeitet da jemand heimlich für Russland? Könnte sein, könnte aber nicht sein.

Filmgarten

Das Vage ist die Domäne von Serra, er schafft mit Pacifiction eine geradezu virtuose Vagheit, eine – so könnte man den Titel ja auch lesen – stillgelegte, ruhiggestellte Fiktionalität, mit der es für einen Plot nicht mehr so richtig reicht. Wenn man sich an die Anfänge der Karriere von Serra erinnert, dann kommt man zu einer Adaption von Don Quijote, Honor de Cavalleria, die den monumentalen Roman von Cervantes beinahe zum Stillstand brachte. Danach hat er Dracula und Casanova in einem großartigen Film zusammengebracht (The Story of My Death), er hat das Sterben des Königs Ludwig XIV. in eine finstere und auch ziemlich langsame Absolutismusdämmerung verwandelt, zuletzt hat er den schon ziemlich verwüsteten Freigeist Helmut Berger noch einmal in eine europäische Geisteslandschaft gestellt, die für einen zwiespältigen Freiheitsbegriff steht (Liberté).

Ohne Fortschrittsglaube

Serra ist ein Eklektiker, der gern die Epochen durchlässig werden lässt und an alles zu glauben scheint, nur nicht an einen Fortschritt, auch an keinen dramaturgischen. Mit Pacifiction führt er nun eine lange Traditionsspur von Erzählungen an ein Ende, in denen Menschen aus Europa oder Nordamerika irgendwo an der Peripherie des Weltgeschehens den Überblick verlieren oder gleich sich selbst.

Großartig, wie Serra dabei einen ganz eigenen, maritim-südhemisphärischen Surrealismus entwickelt. Einmal lässt sich De Roller ein wenig hinaus auf das Meer, zu den Wellen, schippern, und dieses Schaukeln auf einer Schaumkrone ist vielleicht das schönste Bild für den Geist dieses ungewöhnlichen Films, der auch mit fast drei Stunden nie fad wird, wenn man einmal in den Groove des tahitischen Dschungels verfallen ist. (Bert Rebhandl, 29.11.2022)