Arbeitnehmer im fortgeschrittenen Alter: Jedes zusätzliche Jahr im Erwerb kann in Österreich eine um bis zu mehrere hundert Euro höhere Monatspension bringen. Doch viele nützen die Gelegenheit nicht.

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Walter Pöltner ringt um Contenance. Es koste ihn Mühe, seinen Zorn zu unterdrücken, sagt der ehemalige Spitzenbeamte und Übergangs sozialminister. Erschreckend sei es, wie die Politik "wider besseres Wissen" negiere, dass die Alterung der Gesellschaft die Kosten für Gesundheit, Pflege und Pensionen hinauftreibe: "Das Problem wird auf die nächste Generation verschoben. Rechtlich gesehen würde das auf fahrlässige Krida hinauslaufen."

Jüngster Anlass der Kritik ist ein neues Gutachten jener Alterssicherungskommission, deren Vorsitz Pöltner vor gut einem Jahr aus Protest zurückgelegt hat: Von heuer 12,8 auf 21,2 Milliarden Euro im Jahr 2027 sollen laut Prognose die sogenannten Bundesmittel anwachsen, die der Staat zusätzlich zu den Versicherungsbeiträgen der Beschäftigten in die gesetzliche Pensionsversicherung (Arbeiter, Angestellte, Bauern, Selbstständige) zuschießt.

Starker Sprung bei Ausgaben

Absolute Beträge mögen in Zeiten der Rekordinflation rasch einmal astronomisch klingen, doch auch relativ zur Wirtschaftsleistung ist die Lage nicht entspannt. Liegt das heurige Niveau noch stabil bei jenem von 2015, so kündigt sich für die kommenden fünf Jahre ein Sprung von 2,85 auf 3,76 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) an.

Anders als auf längere Sicht prognostiziert sorgt das politisch verfügte Auslaufen der alten, teuren Beamtenpensionen kurzfristig noch für keine Kompensation. Die Ausgaben für die Staatsdiener im Ruhestand steigen zwar nur gering von 2,95 auf 2,97 Prozent des BIP, doch von Einsparungen ist keine Rede. In Euro gerechnet ergibt sich ein Plus von 13,3 auf 16,7 Milliarden.

Wie seit langem vorausgesagt, schlägt sich in erster Linie die demografische Entwicklung teuer nieder: In der laufenden Dekade kommt die besonders geburtenstarke Generation der "Babyboomer" ins Pensionsalter. Dass mit 2024 das gesetzliche Antrittsalter für Frauen schrittweise von 60 auf 65 zu steigen beginnt, sorge für einen gewissen Ausgleich, hält das Gutachten fest. Doch gleichzeitig werde die hohe Inflation entsprechend üppige jährliche Pensionsanpassungen verursachen, so die Gegenrechnung. Außerdem deute die Prognose auf eine "vergleichsweise dürftige Beschäftigungsentwicklung" hin – mit geringeren Beiträgen als Folge.

Lange leben, früh in Pension

Höchste Zeit, um zu handeln? Und wenn, dann wie? Die Alterssicherungskommission wird am Mittwoch über das Gutachten beraten, doch schon jetzt haben Experten Vorschläge parat. Gabriel Felbermayr, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo), beginnt bei einem Klassiker: Die Österreicherinnen und Österreicher müssten später in Pension gehen als bisher.

Warum, illustriert Felbermayr mit einem Vergleich. Während das tatsächliche Pensionsantrittsalter im Vorjahr mit 61,8 Jahren (Männer) und 59,8 Jahren (Frauen) knapp unter jenem von 1970 lag, sei die restliche Lebenserwartung eines durchschnittlich 60-Jährigen heute um fast sieben Jahre höher. Wenn die Menschen im gleichen Alter in Pension gehen, aber viel länger leben, gerate das System in puncto Finanzierung naturgemäß unter Stress, sagt der Ökonom. Dabei würde ein späterer Pensionsantritt allen nutzen. Dem Staat, der Wirtschaft und auch den Bürgern.

Hunderte Euro mehr pro Monat

Wie sehr, hat das Wifo in einer Studie errechnet, für die der Verein "Aktion Generationengerechtigkeit" das Geld lockermachte. Demnach schlägt sich jedes zusätzliche Jahr im Erwerb in einer beträchtlichen Aufbesserung der monatlichen Pension nieder, wobei der Effekt mit dem Einkommen steigt.

So darf eine Hilfsarbeiterin für jedes Jahr, das sie über das Alter von 62 hinaus länger im Job bleibt, ein monatliches Plus von 120 bis 130 Euro brutto erwarten. Für Büroangestellte erhöht sich die Monatspension nach jedem zusätzlichen Erwerbsjahr um gut 200 Euro, für Akademikerinnen sogar um 300 Euro.

Weil Männer im Schnitt höhere Einkommen haben, profitieren sie tendenziell noch stärker. Für Hilfsarbeiter steigt die Monatspension mit jedem zusätzlichen Erwerbsjahr um rund 170 Euro, für Büroangestellte um 260 bis 300 Euro. Akademiker kommen auf jährliche Zuwächse von bis zu 340 Euro.

Riesige Karotte vor der Nase

Zu erklären ist das vor allem mit dem System der Korridorpension, das einen Antritt ab dem Alter von 62 Jahren erlaubt: Für jedes Jahr vor dem Regelpensionsalter von 65 setzt es einen Abschlag von 5,1 Prozent, für jedes Jahr später einen Zuschlag von 4,2 Prozent, gedeckelt mit 12,6 Prozent. Außerdem bekommen ältere Werktätige verschiedene staatliche Beiträge erlassen.

Warum der vorzeitige Rückzug aufs Altenteil dennoch so beliebt sei? Der Staat halte den Betroffenen "eine riesige Karotte vor die Nase", sagt Studienautor Thomas Url, lege ihnen aber gleichzeitig "eine Binde um die Augen". Es hapere an für jedermann verfügbarer Information: Viele wüssten gar nicht, wie sehr sich ein Jahr Arbeit mehr auszahle.

Gelinge da eine Kehrtwende, ergänzt Felbermayr, dann helfe dies gegen das wachsende Problem der Arbeitskräfteknappheit. Und profitieren würde eben auch die Steuerzahler insgesamt: Inklusive höherer Lohnsteuereinnahmen steige der Staat in jedem errechneten Fallbeispiel eines späteren Pensionsantritts finanziell mit Vorteil aus.

Damit die Rechnung aufgehe, bedürfe es aber auch Investitionen in die Gesundheitsvorsorge, merken sowohl Felbermayr als auch Pöltner an. Es brauche ein "Bündel an Maßnahmen", sagt Letzterer, etwa mehr Prävention gegen psychische Leiden, den Hauptgrund für krankheitsbedingte Frühpensionen.

Umstrittene Forderungen

Und eine automatische Anhebung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters mit der Lebenserwartung, wie es andere Kritiker verlangen? Felbermayr stimmt in die Forderung nicht ein: Ihm erscheine es "dringlicher", erst einmal die Lücke zwischen der Realität und den bestehenden 65 Jahren zu schließen.

Der Auftraggeber der Wifo-Studie sieht das anders. Es führe kein Weg daran vorbei, das Alter Jahr für Jahr anzuheben, um einen Teil der steigenden Lebenserwartung abzufedern, sagt Georg Feith, Industriemanager und Wortführer der "Aktion Generationengerechtigkeit". Ebenso will er auf eine nicht minder umstrittene Idee setzen: Die Österreicher müssten sich darauf einstellen, einen Teil ihrer Pension am Kapitalmarkt anzusparen.

Die Pensionistenvertreter bewerten die Lage entspannter. In den jüngsten Prognosen seien die heurigen hohen Lohnabschlüsse noch nicht voll abgebildet, womit die Beitragseinnahmen unterschätzt würden, argumentieren sowohl ÖVP-Seniorenchefin Ingrid Korosec als auch SPÖ-Pendant Peter Kostelka. Tenor: Das neue Gutachten wirke bedrohlicher, als die Realität sei.

Sozialminister sieht Pensionssystem langfristig sicher

Entspannt blickt auch Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) auf das Gutachten. Er hält das Pensionssystem weiterhin für sicher. Das gelte auch langfristig, sagte Rauch bei einer Pressekonferenz am Dienstag. An eine Erhöhung des Antrittsalters denkt er derzeit nicht – vielmehr gelte es, die Übergänge vom Erwerbsleben in die Pension besser und fließender zu gestalten. Hier sollte es keinen plötzlichen Cut geben.

Für eine Abschaffung der Höchstbeitragsgrundlage sprach sich am Dienstag Attac aus. Wer derzeit mehr als 5.670 Euro brutto im Monat verdient, bezahlt darüber keine Sozialversicherungsbeiträge. "Das privilegiert Besserverdienende und schwächt das Pensionssystem", kritisierte Gerhard Kofler von Attac Österreich. Die NGO ist laut Eigendefinition ein Netzwerk für eine demokratische, sozial-, ökologisch- und geschlechtergerechte Gestaltung der Wirtschaft. (Gerald John, APA, 29.11.2022)