"Wollen Sie einen Schaumbecher?" Flink füllt die Mitarbeiterin die Waffel mit gezuckertem Eischnee und taucht die weiße Haube in geschmolzene Schokolade. Nie wieder will man ein abgepacktes Exemplar essen! So gut die Schaumbecher sind, um sie soll es hier nur am Rande gehen. Anlass des Besuchs in der "Karl Kammerer Lebkuchen-, Dauerback- und Schokoladewaren-Erzeugung" sind – wenige Wochen vor Weihnachten – natürlich die würzigen Lebkuchen.

Seit den 1930er-Jahren werden sie hier im 20. Bezirk gebacken, versteckt in einem unscheinbaren Hinterhof. Damals kam Robert Kammerers Großvater – Lebzelter wie viele Generationen vor ihm – aus dem Waldviertel nach Wien, wo er sich bald selbstständig machte. "Zweimal wurde er zum Ende der Saison, als die Lager gefüllt waren, rausgeschmissen. Beim dritten Mal hat’s ihm gereicht", erzählt der Enkel, der 2001 in den Familienbetrieb einstieg.

In der Weihnachtsbäckerei gibt es manche Leckerei. Seit den 1930er-Jahren wird in der Lebkuchenmanufaktur in Wien gebacken. Jetzt ist Hochsaison für Robert Kammerer ...
foto@fischerfoto.com; Christian Fischer

Zur Zeit des Großvaters wurden vorwiegend Lebkuchen produziert: lange haltbar und aus einfachen Zutaten gebacken – Eier und Fett waren damals Mangelware. Gegessen hat man sie ganzjährig, insbesondere die damals besonders gängigen Reibelebkuchen: Sehr dunkel und trocken gebacken wurden sie in Soßen oder Apfelstrudel gerieben. "Die kennt man heute fast nicht mehr", sagt Kammerer. "Umso größer die Freude, wenn die Leute sie bei uns wiederfinden." Reibe- und klassische Honiglebkuchen gibt es bis heute. Daneben aber auch Lebkuchenkonfekt und Lebkuchenstangerln, bunte Schokofiguren und "Kirtagssüßwaren" wie Schaumrollen und türkischen Honig.

Je älter, desto besser

Weihnachten aber, Hochzeit der Lebkuchen, sei bis heute die wichtigste Zeit des Jahres, meint Kammerer: "Wenn ma diese Saison überlebt haben, ist alles gut." Er lacht und entschuldigt sich für das "Chaos", das im Vorzimmer der Backstube herrscht. Zwei Marktstände haben sie dieses Jahr ergattert, viele weitere beliefern sie mit ihren Waren. Hinzu kommen Weihnachtsfeiern und der eigene Onlineshop. Auf dem Boden stapeln sich Pakete und Verpackungsmaterial. Zwischendrin ein mit glänzenden Schokoanhängern geschmückter Baum, auf den Tischen raschelnde Sackerln mit verzierten Lebkuchen. Chaos? Ein wenig. Vor allem aber Vorweihnachtsstimmung!

Der Werksverkauf ist während der Corona-Zeit entstanden, als Feste und Märkte ausfielen und selbst Dauergebäck, das bis zu eineinhalb Jahre frisch bleibt, entsorgt werden musste. Die Weihnachtsproduktion beginnt mit vielen Monaten Vorlauf.

Was würde der Winter bringen? "Wie viele Firmen haben auch wir uns zurückgehalten und konnten daher nicht alle bedienen." Kaum scheint Corona vorbei, treiben steigende Preise für Rohstoffe, Verpackungsmaterial und Energie die Produktionskosten in die Höhe. "Einen Teil fress ma einfach." Dennoch: Um moderate Preisanpassungen kamen auch sie nicht herum.

Zum Glück, so Kammerer, hätten sie viele langjährige, treue Kunden. Liebhaber, die manches wie die bunten Schokopapageien aus ihrer Kindheit kennen. Feinschmecker, die die Qualität der Naschwaren schätzen: handgemacht in Wiens letzter Schokoladen- und Lebkuchenmanufaktur.

... und seine Mitarbeiterinnen – hier werden gerade Schaumbecher in Schokolade getunkt.
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Die Formen für die Schokofiguren sind dieselben wie damals, selbst manch ein Stanniolpapier ist über 50 Jahre alt. Auch an den Teigrezepturen hat sich kaum etwas verändert. Schon im Sommer beginnen die Mitarbeiter mit der Zubereitung des Vorteigs. "Gekocht am 10. 10.", steht auf den großen Kisten, die im hinteren Teil der Backstube gestapelt sind. Gekocht, weil die Masse aus Honig, Zucker und Mehl einmal aufgekocht werden muss. Dieser Teig sei noch ziemlich jung, meint Kammerer.

Je länger der Teig reift, desto besser. Durch die Lagerung erfolgt eine natürliche Gärung, die ihn beim Backen besonders locker macht. Noch erinnert der Teig an schweren Lehm. "Man glaubt gar nicht, dass der aufbäckt, so hart wie der ist." Mit vollem Körpereinsatz drückt Robert Kammerer einen dicken Spachtel (selbstgemacht, die gekauften sind zu filigran) in die Masse. Massiv auch die Knetmaschine, die von zwei seitlichen Zahnrädern angetrieben wird.

Ein Mitarbeiter übernimmt den Spachtel, sticht dicke Quader ab und wirft sie in die riesige Teigwanne. Eine Schaufel Hirschhornsalz – früher aus echten Hörnern, heute chemisch hergestellt –, damit der Teig schön locker wird, und dann das Wichtigste: die pfeffrig-süßliche Gewürzmischung, die das schlichte Gebäck zur Gaumenfreude macht. Auch hier braucht es deutlich mehr als die übliche Messerspitze: Eine ganze Schüssel landet im Teig.

"Deshalb macht’s keinem Konditor Spaß, zu Hause zu backen", meint der Chef lachend. Bei großen Mengen seien die Rezepte viel toleranter, das Ergebnis schmecke besser, und die Sauerei gebe es sowieso. Nach der Knetmaschine wird der Teig von Hand rundgeschliffen, bis er "geschmeidig wie ein Babypopo" ist. Dann wird ausgerollt, -gestochen und gebacken.

Pantonefarben auf dem Keks

Christbäume und Sterne gibt es, aber auch Bären, Eisenbahnen und Ultraschallsonden – die verzierten Lebkuchen sind ein beliebtes Firmenweihnachtsgeschenk. Einen Wiener Betrieb gebe es noch, der Ausstecher in Handarbeit herstelle, sagt Kammerer. Lachen müsse er, wenn Kunden ihre Bestellung mitsamt gewünschten Pantonefarben aufgeben. Nicht nur das Verzieren, auch das Anmischen der Farben erfolgt in Handarbeit. Gerade ist eine Mitarbeiterin dabei, Sterne in gelbes Gewand mit Zipfelmütze zu kleiden. Flink noch die Herzchenaugen und der Mund – fertig ist der lachende Weihnachtsstern.

Von Bär bis Stern mit Zipfelmütze – die Lebkuchen sind auch ein beliebtes Firmenweihnachtsgeschenk.
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Derzeit experimentieren sie mit biologischen Alternativen. Das Problem: Viele Zutaten finden sie nicht in Bioqualität, etwa die Rindergelatine, die in den Glasuren zum Einsatz kommt. "Schwein gäbe es, das wollen wir aber nicht mehr nehmen, weil es manche nicht essen wollen oder dürfen." Vegane Alternativen – auch dies ein zunehmend wichtiges Thema – trocknen nicht richtig oder "brechen schiach". Robert Kammerer schlägt ein verziertes Herz auf den Tisch: "Kirtagserprobt! Unsere Glasuren müssen was aushalten." Bei den Teigen ist die Veganisierung leichter: Statt Honig nehmen sie Invertzuckersirup. "Klingt böse, findet man aber schon in uralten Kochbüchern."

Kirtagserprobt!
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Er selbst steht angesichts all der Büroarbeit nur noch selten Zeit in der Backstube. So selten, dass er kürzlich vom Schaumrollenfüllen Blasen an den Fingern bekommen habe. Seine Mitarbeiterinnen, die diese Arbeit tagtäglich machen, konnten sich das Lachen nicht verkneifen. 16 Personen arbeiten im Betrieb, im Winter kommen einige Aushilfen hinzu. So wie die ältere Dame, die gerade Christbäume aussticht. "Sie hat grad ihr 50-jähriges Jubiläum gefeiert und gibt jetzt geringfügig noch Gas." Sie ist nicht die einzige langjährige Mitarbeiterin. "Viele haben mich schon in Windeln rumgeschleppt", erzählt der Chef.

Hat er selbst nach all diesen Jahren eigentlich noch Lust auf Süßes? Da er ständig frische Ware verkoste, esse er zu Hause meist eher Salziges. Als er zum Abschluss eine Schachtel mit Lebkuchenkonfekt herausholt – sein Favorit –, kann er doch nicht widerstehen und nascht einige der mit Schoko überzogenen Steinchen.
(Verena Carola Mayer, 1.12.2022)