Mit einem Kugelschreiber kann man auf verschiedene Wege versuchen, zu Geld zu kommen. Ein 19-jähriger Angeklagter behauptet, so ein Schreibgerät als Waffe bei einem Raubversuch benutzt zu haben.

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Wien – Alexandra Skrdla, Vorsitzende des Schöffensenats, ist verwirrt. Und gibt das im Prozess gegen den 19-jährigen Angeklagten Hüseyin auch genauso zu. "Ich bin verwirrt", sagt sie nämlich, nachdem sich der gebürtige Österreicher zum Vorwurf des Staatsanwaltes, er habe am Morgen des 23. Aprils versucht, einen Passanten auszurauben, teilweise schuldig bekannt hat. Der Grund für Skrdlas Knoten im Gedankengang: "Eigentlich haben Sie ja daheim geschlafen", hält sie dem Angeklagten seine Aussage bei der Polizei vor. Dort hat er nämlich noch detailliert geschildert, warum er trotz DNA-Spuren auf einer Tatwaffe unmöglich der Täter sein könne. Da er in der fraglichen Nacht eben daheim geschlafen habe.

Vor Gericht gibt der Teenager zu, damals gelogen zu haben. Denn: "Ich habe generell Angst vor der Polizei, aber das ist eine andere Geschichte", sagt der wegen Körperverletzung Vorbestrafte. "Ich hab schon so viel Schlimmes durchgemacht mit der Polizei, ich vertraue denen nicht." – "Aber einem Richter vertrauen Sie schon?", fragt die Vorsitzende mit Unschuldsmiene. "Ja", antwortet Hüseyin. "Das ist interessant", konstatiert Skrdla und blättert im Akt. "Beim Haft- und Rechtsschutzrichter haben Sie nämlich gesagt, dass Sie nicht schuldig sind und Ihre Angaben bei der Polizei korrekt waren. Ihre DNA-Spuren auf der Holzlatte, die Sie bei dem Raub verwendet haben sollen, haben Sie damals damit erklärt, dass Sie die Latte vielleicht angegriffen haben, um etwas abzumessen oder ein Regal zu bauen." Der Angeklagte kann darauf wenig erwidern.

61-jähriger Taxifahrer als Opfer

Aber der Reihe nach. Laut Anklage soll der damals noch 18-Jährige am Tatmorgen einen 61-jährigen Taxifahrer, der auf dem Weg zu seinem Arbeitsgerät war, mit erhobener Holzlatte bedroht und zehn Euro gefordert haben. Das Opfer habe das Holzstück abgewehrt, dabei sei es in drei Teile zerbrochen, anschließend soll Hüseyin ein Messer gezückt und neuerlich zehn Euro verlangt haben. Wieder wehrte sich der 61-Jährige, der dabei eine kleine blutende Schnittverletzung an der Hand erlitt. Das Opfer stürzte, konnte dann aber noch die Polizei alarmieren. Der Angeklagte soll geflüchtet sein, dem Mann, der ihn verfolgte, dann aber noch gedroht haben, dass er bereits Verstärkung angefordert habe.

Stimmt so nicht, verteidigt sich der Angeklagte gegen diese Vorwürfe. Er bekennt sich schuldig, den 61-Jährigen bedroht zu haben, will aber weder eine Raubabsicht gehabt noch ein Messer verwendet haben. "Und ich bekenne mich schuldig, dass er sich verletzt hat", sagt er zur Verwunderung des Senats. "Wieso? Sie haben ja angeblich kein Messer gehabt?", erkundigt sich Skrdla. "Na ja, ich habe einen spitzen Gegenstand in der Hand gehabt, ist ja logisch, dass ich schuldig bin", argumentiert Hüseyin. Bei dem spitzen Gegenstand soll es sich um einen Kugelschreiber gehandelt haben – eine Aussage, die kurz darauf zu einem interessanten wissenschaftlichen Experiment führen wird.

Angeklagter hatte Streit mit Vater

Der Angeklagte, der die Schule in der achten Klasse Oberstufe abgebrochen hat und nun als Küchenhilfe Teilzeit arbeitet, erklärt den Vorfall so. Er betreue seine pflegebedürftigen Eltern, an dem Tag habe er Streit mit seinem Vater gehabt. Um den Kopf freizubekommen, sei er an die frische Luft gegangen. Die Holzlatte fand er auf dem Boden, fünf Minuten später stieß er auf den Taxifahrer. "Er erinnerte mich an meinen Vater", sagt Hüseyin, daher habe er dem 61-Jährigen "Angst einjagen wollen".

Warum er dafür zehn Euro fordern musste, kann der Angeklagte nicht wirklich erklären. Aber das Holzstück habe er nur erhoben, um das Gegenüber in Furcht und Unruhe zu versetzen. "Dann ist es entzweigesprungen", schildert der Angeklagte. "Warum macht es das?", will die Vorsitzende wissen. "Weil er es abgewehrt hat", lautet die Antwort. "Ich war schockiert, wie leicht es gesprungen ist", erinnert Hüseyin sich, noch schockierter scheint für ihn gewesen zu sein, dass der Taxifahrer sich ihm näherte.

Daher habe er einen Kugelschreiber gezogen und in der erhobenen Hand gehalten, um den 61-Jährigen auf Distanz zu halten. Der habe aber wieder hingegriffen und müsse sich dabei verletzt haben. "Dann ist er gestürzt. Da habe ich mir gedacht: 'Scheiße, ich bin zu weit gegangen.' Ich hatte Panik und bin davon gerannt." Allzu prägend kann diese Panik nicht gewesen sein, denn zwei Tage später ereignete sich der Vorfall mit der versuchten schweren Körperverletzung, wegen der der Angeklagte eine Vorstrafe von acht Monaten bedingt bekommen hat, wie ihm Skrdla vorhält. "Das war diese Woche ... – ich war dumm und bin auf die falsche Schiene geraten", sagt der 19-Jährige dazu.

Hochinteressantes Experiment der Beisitzerin

Beisitzerin Anna Marchart, die die Aussage mit zusammengepressten Lippen verfolgt hat, um nicht dazwischenzureden, nutzt dann ihr Fragerecht für den oben angekündigten Versuch. "Kommen Sie einmal her", fordert sie den Angeklagten auf, vor den Richterinnentisch zu treten. Dann bittet sie ihn, ihr seine offene Hand entgegenzuhalten – und stößt ihren Kugelschreiber gegen diese. "Und? Bluten Sie jetzt?", will sie wissen. "Nein, da ist jetzt Farbe", stellt Hüseyin fest. Für das Protokoll hält Marchart explizit das Resultat ihrer bahnbrechenden Forschung zu den Folgen von Hautkontakt mit einem Schreibgerät fest: "Es verursacht Farbspuren, aber keine Schnittverletzung."

Der Taxifahrer bestätigt bei seinem Auftritt, dass sich der Tathergang so wie in der Anklageschrift beschrieben ereignet hat. Er beharrt darauf, dass ein Messer im Spiel war. "Ein Kugelschreiber schaut so aus", sagt er und nimmt seinen eigenen aus dem Sakko. "Und das war eine Messerklinge, die ich gesehen habe", widerspricht er dem Angeklagten. Auch den Versuch des Verteidigers, Argumente gegen die Raubabsicht zu finden, beendet der Zeuge recht rasch. Er habe zwar beim Sturz sein Mobiltelefon und seine Uhr verloren, die Hüseyin nicht genommen habe. Allerdings – wieder greift der 61-Jährige in sein Sakko – handelt es sich bei dem Handy um ein Nokia-Modell aus dem Jahr 2008 und bei der Armbanduhr um ein Geschenk seiner Lebensgefährtin aus der eher unteren Preisklasse. Als Schmerzensgeld fordert das Opfer für die von der Rettung vor Ort versorgte Verletzung 500 Euro, was Hüseyin anerkennt.

"Im Grunde ein anständiger junger Mann"

Im Schlussplädoyer artikuliert der Staatsanwalt seine Meinung recht unverblümt. "Ihre Verteidigungsstrategie ist als inferior zu bezeichnen", meint er zum Angeklagten. "Für die Laienrichter sei aber erwähnt, dass das Ihr gutes Recht und kein Erschwerungsgrund ist", stellt er klar. Dennoch: "Sie hätten sich wirklich eine bessere Geschichte ausdenken können." Der Verteidiger bleibt dagegen bei seiner Linie: "Im Grunde ist er ein anständiger junger Mann", sagt er über seinen Mandanten. "Es sind nur diese zwei Tage im April, wo er ein wenig vom Weg abgekommen ist." Hüseyin, der nach seiner Festnahme im August zwei Wochen in Untersuchungshaft gesessen ist, habe das Haftübel bereits verspürt und wisse, dass er nie mehr ins Gefängnis wolle.

Das Gericht erfüllt dem Teenager diesen Wunsch nicht. Nach kurzer Beratung wird über den Angeklagten eine Zusatzstrafe von zwei Jahren unbedingter Haft verhängt. "Ein versuchter schwerer Raub ist genau das, was passiert ist", begründet die Vorsitzende die Entscheidung. "Sie wollten Geld, nichts anderes", ist Skrdla überzeugt, dass das Mobiltelefon zu alt gewesen sei und die Uhr zu kompliziert zum Verhehlen. "Eine Unbesonnenheit sehen wir nicht, Sie haben die Holzlatte ja schon vorher aufgehoben", wird eine Affekthandlung verneint.

Erschwerend komme hinzu, dass das Opfer verletzt worden sei, es gäbe auch Überfälle ohne Waffeneinsatz. Dass ein Messer im Spiel war, steht für den Senat ebenso fest, denn: "Wir haben gesehen, was mit einem Kugelschreiber passiert." Da sich der Angeklagte drei Tage Bedenkzeit nimmt und auch der Ankläger keine Erklärung abgibt, ist die Entscheidung nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 29.11.2022)