Würden Sie sich von diesem Mann auf ein Getränk einladen lassen? Voodoo Jürgens schaut uns ganz lieb an.

Foto: Florian Lehner

In Sachen New Yorker Mafia gibt es eine alte Diskussion. Stichwort: Henne oder Ei. Bis heute ist nicht geklärt, ob die gern zur populärkulturellen Verklärung neigenden Gangster die in der 1972 gestarteten Trilogie Der Pate von Francis Ford Coppola von den Schauspielern verwendete Sprache, Gestik und Mimik beeinflusst haben – oder ob nicht die Mafia erst im Nachhinein unter dem Einfluss der Kinofilme so zu sprechen und zu agieren begann. Manchmal ist ja das Leben dazu in der Lage, die Kunst zu imitieren.

Allerspätestens mit seinem neuen Album Wie die Nocht noch jung wor kann man auch Voodoo Jürgens diesbezüglich einige Fragen stellen. Immerhin lebt er in Personalunion als Darsteller und Dargestellter im Wunderland eines sehr wahrscheinlich so niemals existiert habenden Wiener Rot- licht-, Tschocherl- und Verlierermilieus der frühen 1970er-Jahre.

Im richtigen Leben hat dieser Kunststil zumindest noch vor einigen Jahren diverse Kunststudenten zur Nachahmung angeregt. Die Rede ist von Voodoos top gestyltem Schlurf-, Strizzi- und Schlaghosenlook. Der erinnert an einen Schlagersänger, der nach jahrzehntelanger Haftstrafe wegen Erbschleicherei wieder freigekommen ist, aber noch keine Zeit für den Fast-Fashion-Diskonter hatte.

Blume aus Stadlau

Wenn es sich bei Popmusik um die Verdichtung der Realität zum einfacher zu handhabenden Klischee handelt, dann stellt Voodoo Jürgens nach gut 50 Jahren Austropop so etwas wie eine sehr spät blühende Blume aus dem Gemeindebau dar. Allerdings blüht sie nicht wie im Original von Wolfgang Ambros im Flächenstadtteil Stadlau. Die sozialpornografisch geilere Gegend befindet sich schließlich im Puffviertel zwischen der von Voodoo Jürgens besungenen Lasalle Strossn und dem Prater.

Voodoo Jürgens

Hier kommt die Kunst von Voodoo Jürgens voll zur Geltung. Und eines muss man ihm voller Respekt zugestehen: Kunstfigur und Künstler sind über die Jahre eine symbiotische Einheit geworden. Das heißt, dass Voodoo Jürgens, der früher einmal David Öllerer aus dem niederösterreichischen Tulln war, auch in seinen zwölf neuen Liedern perfekt aufgeht.

Raunzen und Stänkern

Das Wien als Habitat der schönen Verlierer muss man wie jedes Kind, das mit großen Augen vom Land in die Stadt kommt, als "Wien" mit Anführungszeichen lesen. Man würde das Geraunze und Gestänkere, das schon im ersten Lied Weida is gscheida als klassischer Pick-a-fight-Song anhebt, allerhöchstens bis zum zweiten Song aushalten.

Obwohl sich am nächsten Tag ein schwerer Kater abzeichnet, herrscht dort in Twist eine selten gute Stimmung im Tschocherl. Für die Damen gibt es eine Runde Pfirsichspritzer, und für die Herren zur Feier des Tages einen Schnaps, der beim Diskonter mehr als sieben Euro die Flasche kostet. In der Jukebox, zu der wir heute Spotify sagen, spielen sie eine Nummer von Creedence Clearwater Revival, den vier Abbas, den B-Südtirolers oder etwas anderes fetziges Modernes: "Daun spüd sa si o, bis die Nocht mit schweren Lidern schlogt. Daun wird si tuschiert, sie drahn sie, bis die Fetzn fliagn."

Voodoo Jürgens

Den Diskonter haben wir schon erwähnt, dort geht es, wieder kurz nüchtern, in Hoiber Preis hin. Danach schaut in Federkleid der große schwarze Vogel von Ludwig Hirsch vorbei. Der schwarze Vogel ist ein mächtiges Symbol! In Es geht ma ned ei pascht dem Mann die Gnädige ab, Beses End behandelt Arbeitslosigkeit und soziale Verelendung.

Die Hacklerballade Zuckerbäcker fischt, jetzt tatsächlich in Stadlau, in jenem Fahrwasser, in dem der Ostbahn Kurti einst die Bruce-Springsteen-Einwienerung Arbeit sang. Mit Stöckelschuach sind wir dann endlich bei den Damen mit Deckel angelangt: "Burli, wos schaustn gor so gschreckt. Trau die ruhig eina, ka Aungst, i beiß ned." Am Ende modelt Voodoo Jürgens die berühmten Wiener Chatprotokolle zum innigen Liebeslied um: "Kriagst ollas, wos du wüst von mir, owa loss mi ned im Stich. I wissat gor ned, wos i tuan tät, waun du nimma bei mir bist."

Die Begleitband nennt sich Die Ansa Panier und durchforstet auf sehr hübsche Art die Welt von Tom Waits und dessen Trilogie Mule Variations, Alice und Blood Money, aber zärtlicher. Mit dem Gesang könnte sich Voodoo Jürgens aber bitte langsam etwas überlegen. Es rollt einem ja die Zehennägel auf bei all dem Geraunze. (Christian Schachinger, 30.11.2022)