Die Preisentwicklung im Laufe der Monate.

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Noch immer setzt Russland Getreide zur Erpressung der Welt ein. Das sagte jüngst der ukrainische Infrastrukturminister Olexander Kubrakow. Demnach seien im November nicht einmal drei Millionen Tonnen Getreide aus der Ukraine exportiert worden – nur die Hälfte ihrer Gesamtkapazität. Und das trotz der Verlängerung des von Uno und Türkei vermittelten Getreidedeals um 120 Tage, der es ukrainischen Schiffen erlaubt, das Schwarze Meer über einen sicheren Korridor zu verlassen.

Ein Soldat in einem Weizenfeld in der Ukraine. Moskau steht in der Kritik, Weizen als Kriegswaffe einzusetzen.
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Denn Russland kennt laut Kubrakow andere Wege, um die ukrainischen Exporte zu behindern: etwa indem es die nötigen Inspektionen, die Teil des Deals sind, reduziert. Nunmehr würden lediglich rund acht Schiffe am Tag kontrolliert und zur Weiterfahrt freigegeben – statt wie bisher 40. Damit entsteht nicht nur ein Stau am Bosporus vor Istanbul, sondern auch eine lange Warteschlange im ukrainischen Ausfuhrhafen Odessa – und weltweit Ungewissheit über Liefermengen. Insbesondere treibt Russland damit die Preise für gewisse Güter in die Höhe – unter anderem für Weizen.

Das ist durchaus dramatisch: Schließlich ist die Weltbevölkerung für ihre Kalorien- und Proteinzufuhr zur Hälfte auf Weizen und ebenfalls teurer werdenden Mais und Reis angewiesen. Das Grundnahrungsmittel Brot wurde für Menschen mancherorts zu einem teuren Gut. Im Frühjahr stieg der Weizenpreis auf ein Allzeithoch (rund 470 Dollar pro Tonne), nun liegt der Preis mit 338,5 US-Dollar pro Tonne weiter über dem ohnedies hohen Vorkriegsniveau. Wieso das so ist, lässt sich anhand von fünf Grafiken erklären:

1. Fast 30 Prozent der weltweiten Weizenexporte stammen aus Russland und der Ukraine.

Die Ukraine ist die Kornkammer Europas. Das war schon vor 2.400 Jahren so, als griechische Kolonien am Nordufer des Schwarzen Meeres das antike Athen mit Getreide versorgten. Und auch heute beeinflussen die Weizenfelder und Exporthäfen der Ukraine die Ernährungssicherheit und damit das Schicksal mehrerer Entwicklungsländer. 2021 war die Ukraine das fünftgrößte Exportland mit 9,4 Millionen Tonnen – fast 30 Prozent der weltweiten Weizenexporte kamen aus Russland und der Ukraine.

Die Abnehmer sind auf der ganzen Welt verteilt. Dabei sind einige Länder besonders abhängig von russischem oder ukrainischem Weizen: Ägypten, Uganda oder Ruanda. Sie mussten ihre Lager nun zu den erhöhten Preisen auffüllen, mancherorts – etwa in Nigeria – spüren das die Konsumenten am Brotpreis besonders stark.

Gefährdet werden durch die Preisanstiege insbesondere aber Menschen, die schon vor dem Krieg an Hunger litten und auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen sind: Dazu gehören jene in Somalia, im Jemen oder in Äthiopien – dort musste das UN-Welternährungsprogramm (WFP) seine Hilfen kürzen. Schließlich steigen die Preise für Nahrungsmittel, aber nicht die Mittel des WFP. Abhilfe will die Ukraine mit einer Getreideinitiative für afrikanische Ländern schaffen, dafür hat sie 150 Millionen Dollar von mehr als 20 teilnehmenden Ländern und der EU, darunter Österreich, erhalten. Ein erstes Schiff ist bereits auf dem Weg zum Horn von Afrika.

2. Der Krieg hat die Weizenexporte der Ukraine stark beeinträchtigt.

Der brutale Angriffskrieg Russlands in der Ukraine hat die Weizenproduktion und den Export stark beeinträchtigt. Vor wenigen Tagen hat das ukrainische Landwirtschaftsministerium Zahlen veröffentlicht, wonach die Ukraine heuer bisher 29,6 Prozent weniger Getreide ausgeführt habe als im Vorjahr: 18,1 Millionen Tonnen statt 25,8 Millionen Tonnen.

Es sei für die Ukraine zwar ein ertragreiches Jahr gewesen, ergaben Daten von Nasa Harvest, dem Ernährungssicherheits- und Landwirtschaftsprogramm der US-Raumfahrtbehörde Nasa. Doch zu 22 Prozent des Weizens im östlichen Teil des Landes habe die Ukraine wegen des Krieges keinen Zugang gehabt, unter anderem weil zahlreiche Felder an der Front liegen.

Zudem wurde knapp ein Fünftel des ukrainischen Weizen – im Wert von rund einer Milliarde Dollar – von russischen Besatzern abgeerntet. Außerdem musste die Ukraine wegen der russischen Belagerung ihrer Häfen und zur Sicherstellung der eigenen Versorgung ihre Exporte vorübergehend einstellen. Auch die Speicherkapazitäten für Weizen wurden durch den Krieg beeinträchtigt. Erst der heikle Getreidedeal sorgte für eine Wiederaufnahme ukrainischer Exporte.

3. Trotzdem: Es mangelt nicht an Weizen – der Preis ist das Problem.

Moskau, das ebenfalls zeitweise die eigenen Weizenexporte beschränkte, steht in der Kritik, Hunger als Kriegswaffe einzusetzen. Aber nicht, weil es wegen des Kriegs am Weltmarkt an Weizen fehlt: Die Ernte auf der Nordhalbkugel fiel heuer sehr gut aus. Russland fuhr gar mit 100 Millionen Tonnen Weizen – davon rund fünf Millionen aus ukrainischen Gebieten – eine Rekordernte ein und hat angekündigt, seine Ausfuhren im nächsten Jahr noch zu verdoppeln. Sondern: Ist das Weizenangebot instabil, dann leiden weltweit Millionen Menschen. Denn Unsicherheit und Inflation treiben die Weizenpreise in die Höhe.

"Es ist eine Preis- und keine Mengenkrise", fasst auch Francisco Mari von der NGO Brot für die Welt im STANDARD-Gespräch die Problematik zusammen. Die Krise werde nach Ansicht Maris weiter andauern, da die Unsicherheit, die der Krieg mit sich bringt, vorerst bestehen bleibe und von Spekulanten weiter ausgenutzt werde. Er erinnert an den Aufruhr an der Börse, als Russland jüngst drohte, das Weizenabkommen mit der Ukraine nicht zu verlängern, und der Weizenpreis wieder um sieben Prozent in die Höhe sprang. "Das alles ist im Preis drin", sagt Mari.

4. Auch Energie- und Düngerpreise sind Teil des Problems – sowie das globale Agrarmodell.

Der Anbau von Weizen ist zudem äußerst energieintensiv: Energiekosten machen nach Angaben von Mari die Hälfte des Weizenpreises aus. Wegen der im Zuge des Kriegs explodierenden Preise für Energie und für hauptsächlich aus Russland stammenden Dünger würden Bauern und Bäuerinnen nun weniger aussäen.

Allerdings sei man von einer Mengenkrise dennoch weit entfernt: Allein in der EU wird mehr Weizen angebaut als in der Ukraine, ruft Mari in Erinnerung. Davon würden aber 70 bis 80 Prozent für Brennstoff und Futtermittel für die Fleischindustrie, die ebenfalls die Nachfrage antreiben, verwertet. Ein Umstand, den es laut Mari dringend zu verändern gelte: "Auf der Welt werden im Durchschnitt 5.000 Kalorien täglich pro Person produziert und dennoch hungern 800 Millionen Menschen", kritisiert er.

Für Mari ist diese Krise allerdings auch eine Chance, das System zu verändern und Abhängigkeiten zu beenden: Es gebe auf der Welt eben nicht nur Weizen, Reis und Mais, für die das nötige Saatgut und Dünger von nur wenigen Firmen vertrieben wird, sondern insgesamt rund 7.000 Pflanzenarten, die teils weniger Wasser oder Energie im Anbau bräuchten. Durch eine Umstellung im großen Stil könnten Böden so wieder fruchtbar gemacht werden, Regionen sich besser selbst versorgen und unabhängiger von globalen Ereignissen werden. (Flora Mory, Robin Kohrs, Moritz Leidinger, Michael Matzenberger, 11.12.2022)