Nicht so niedlich, sondern ein knorriger Geselle: Gepetto erschafft sich in Guillermo del Toros "Pinocchio" einen neuen Sohn, nachdem er seinen eigenen verloren hat.

Foto: Netflix

Dass die Nase dieses merkwürdigen Knaben wächst, sobald er Lügen auftischt, ist nur zu gut bekannt. Doch noch in keiner der zahlreichen Filmadaptionen von Carlo Collodis Kinderbuchklassiker trieb sie so hübsche Blüten. Aus dem aus Pinienholz geschnitzten Riecher sprießt im aktuellen Fall ein neues, frisches Ästchen hervor. Je länger es wächst, desto mehr Nadeln finden sich darauf, und wenn Pinocchio gar nicht mehr aufhört zu schwindeln, dann poppen sogar ein paar Bockerln hervor.

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An solchen Details erkennt man die wahren Meister. Von Guillermo del Toro, dem in Hollywood tätigen Mexikaner, der seit Filmen wie Pans Labyrinth oder The Shape of Water als eine der erfinderischsten Größen des fantastischen Kinos gilt, darf man freilich solche Originalität und Sinneskraft erwarten – selbst dann, wenn er sich ein Stück Weltkulturerbe einverleibt, das in jedem gut sortierten Haushalt steht.

Existenzialistische Dimension

Del Toro hat sich mit dieser gemeinsam mit Mark Gustafson (Der fantastische Mr. Fox) in Stop-Motion-Technik animierten Produktion einen Kindheitstraum erfüllt. Wer die schaurigen, multidimensionalen Faltwelten seiner Filme kennt – für die Verwerfungen der Historie lassen diese die Tür stets einen Spalt weit offen –, wird schon vermuten, dass es ein Traum voller Abgründe und existenzialistischer Nachschürfungen ist. Er wollte einen Film über Ungehorsam als Tugend drehen, hat del Toro über seinen Zugang verraten. Mit antiautoritärem Schwung und grotesken Zuspitzungen lässt er nicht nur die von ihm selbst verehrte Disney-Version aus dem Jahr 1940 hinter sich.

Schon wie Pinocchio ins Leben stolpert, hat unerwartet melodramatische Akzente. Gepetto, der Tischler, hat seinen eigenen Sohn im Ersten Weltkrieg bei der Bombardierung der Dorfkirche verloren und diesen Verlust nie verwunden. Im Suff schnitzt er Jahre später, wütend über sein Schicksal, einen hölzernen Stellvertreter.

Wie ein Flohmarktfund

Ganz fertig wird er damit nicht, ein Ohr beispielsweise fehlt ganz. Es ist ein knorriges, rustikales Ding, mehr Flohmarktfund als Maßarbeit. Als die Puppe zum Leben erwacht, bewegt sie sich ungelenk mit unheimlicher Note – nichts ist mehr zum Fürchten als das, was einem Menschen um ein Haar ähnelt.

Del Toro unterstreicht in seiner Netflix-Produktion die Aufmüpfigkeit und Renitenz des hölzernen Buben. Das lässt ihn nur noch verdächtiger erscheinen. Pinocchio spielt im Italien der 1930er-Jahre. Der ortsansässige Faschist, Podestà (Stimme im Original: Ron Perlman), will die subversive Puppe erziehen, später dann sogar fürs Militär dienstbar machen. Eine für del Toro charakteristische, vollkommen schlüssige Historisierung der märchenhaften Moritat: Der Reifeprozess zum braven Bürger wird zur Suche nach der eigenen Menschlichkeit, die Widerspenstigkeit zum Gegengift gegen den um sich greifenden Konformismus erklärt. Und eine Holzpuppe zum Gegenmodell männlicher Ideale von Stärke und Gehorsamspflicht.

Große Imaginationskraft

Doch selbst solche Überschreibungen wären nur halb so gut ohne die Imaginationskraft del Toros. Gerade die Nebenfiguren wie der Zirkusimpresario Count Volpe (Christoph Waltz) mit seinem flügelartigen Haarstil und sein devotes, hässliches Äffchen Spazzatura (Cate Blanchett) sind ein besonders erinnerungswürdiges Gespann. Sie exemplifizieren, wie der Film von Komik ins Haarsträubende driftet. Nicht zu vergessen der Erzähler des Films, die Grille Sebastian J. Cricket, die, von Ewan McGregor gesprochen, im Herzen der Holzpuppe lebt. Bei Feen und Meeresungetümen ist del Toro ohnehin ganz bei sich.

Die noch am wenigsten überzeugende Idee ist es, diesen Pinocchio mit Musicalelementen (Musik: Alexandre Desplat) zu durchsetzen, was nicht so recht zur restlichen Düsternis passen will. Del Toros Hang zum Unheilvollen ist nicht leicht auszubalancieren. Diese Pinocchio-Version ist kein Film für kleine Kinder, aber sehr wohl für solche, die sich mit Verlust und der Fragilität des Lebens auseinandersetzen wollen. (Dominik Kamalzadeh, 30.11.2022)