Barbara Blaha, Leiterin des Momentum-Instituts, schreibt in ihrem Gastkommentar, warum es richtig ist, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Druck für mehr Lohn machen.

Der Verkehrskollaps blieb aus: Am Montag stand der gesamte Zugverkehr in Österreich still. Dementsprechend leer war es daher auch am Wiener Hauptbahnhof.
Foto: Christian Fischer

Ja, dürfen die denn das? Die Eisenbahner den Zugverkehr lahmlegen? Krankenpfleger und Ärztinnen die Ordensspitäler auf Notdienst hinunterfahren? Die Angestellten im Handel einen ganzen Einkaufstag vor Weihnachten ausfallen lassen? Die kurze Antwort: selbstverständlich. Das Recht, seine Arbeit niederzulegen, ist ein Menschenrecht.

In Österreich wird das Streikrecht zwar selten ausgeübt. Aber heuer ist es nicht überraschend. Ganze neunmal ist in den letzten 25 Jahren die Kaufkraft der Löhne gefallen. Nie war der Verlust so groß wie dieses Jahr: Die Preiserhöhungen der Unternehmen fressen den Arbeitnehmern vier Prozent ihrer realen Löhne weg.

Einmalzahlung verpufft

Als Gehaltsausgleich wollen die Arbeitgeber 2023 auf Einmalzahlungen setzen. Für sie aus gutem Grund: Das wäre deutlich billiger. Steigt der Grundlohn, bleibt er das ganze Berufsleben höher. Er bestimmt, wo die Lohnverhandlungen nächstes Jahr beginnen. Eine Einmalzahlung verpufft hingegen nach einem Jahr. Akzeptiert eine Eisenbahnerin mit 2000 Euro Monatsgehalt eine Einmalzahlung von 1000 Euro, fällt sie im nächsten Jahr um diese 3,6 Prozent wieder zurück. Und der Verlust bleibt für das restliche Berufsleben. Nach einem Jahr ergibt das keinen Unterschied. Über Jahrzehnte fehlen ihr zehntausende Euro, die dem Unternehmen bleiben.

Bis vor kurzem hätten die Arbeitnehmerinnen da vielleicht trotzdem mitgemacht. Zu groß war der Druck durch globalisierten Wettbewerb, wirtschaftsliberale Budget- und Geldpolitik und vor allem stetig steigende Arbeitslosigkeit. Entsprechend gering fiel die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften aus. Die Unternehmen waren nicht solidarisch. Der Anteil der Löhne im Verhältnis zu den Gewinnen befindet sich seit den 1980ern im Sinkflug.

"Plötzlich haben die Arbeitnehmer Verhandlungsmacht."

Nun hat sich der Wind gedreht: 40 Jahre Umverteilung nach oben könnten enden. Nach Corona ging es wirtschaftlich steil bergauf. Die Arbeitslosigkeit liegt so niedrig wie seit zehn Jahren nicht, offene Stellen gibt es so viele wie seit 30 Jahren nicht. Plötzlich haben die Arbeitnehmer Verhandlungsmacht. Wegen der Rekordteuerung brauchen sie diese auch. Gering- bis Durchschnittsverdiener können sich Rücksicht auf sinkende Unternehmensgewinne schlicht nicht leisten. Unter diesen Vorzeichen sind alle Arbeitnehmer gut beraten, auf kräftigen Lohnerhöhungen zu bestehen. Und das gilt besonders, wenn sie gut organisiert sind.

Kluge "Lohnkompression"

Dass die starken Eisenbahner mit einer hohen Forderung vorpreschen – und nicht etwa Friseurinnen, von denen nur neun Prozent eine Gewerkschaftsmitgliedschaft haben –, legt die Latte für andere höher. Das Gute daran: Zieht eine kräftige Gewerkschaft die Löhne auch mit dem Streikhebel solidarisch nach oben, nimmt sie Schlechterbezahlte ein bisschen mit. Je knapper das Personal, je mehr Konkurrenz um Arbeitskräfte, desto stärker wachsen die Löhne anderer Branchen. Auch die Friseurin wird – wenn auch verspätet – mehr verdienen.

Die Forderung der Eisenbahner nach 400 Euro Lohnerhöhung für alle Beschäftigten ist klug durchdacht. Sie erhöht untere und mittlere Einkommen prozentuell stärker als obere. Diese "Lohnkompression" hilft dagegen, dass jene Beschäftigten, die in schlechter bezahlten Bereichen arbeiten, diese in Scharen verlassen. Die Bahn braucht eben auch ausreichend Zugbegleiterinnen oder Reinigungspersonal: Wer die weiter haben will, muss sich in diesen Bereichen an Lohnabschlüsse gewöhnen, die deutlich über der Inflationsrate liegen.

Sozialpartnerschaftliche Tradition

In sozialpartnerschaftlicher Tradition hätte man sich auf kräftige Lohnerhöhungen schon einigen können. Dazu müssten die Arbeitgeberinnen aber anerkennen, dass sich der Wind gedreht hat: Wer Fachkräftemangel schreit, der darf bei Löhnen nicht knausern. Auch wenn das heißt, auf einen Teil der Gewinne und exzessive Managergehälter zu verzichten, damit Beschäftigte mehr Lohn erhalten. Das wäre tatsächlich eine Zeitenwende. (Barbara Blaha, 30.11.2022)