Man nehme eine spektakuläre wie spekulative Idee, die außerhalb des wissenschaftlichen Kanons steht und große Aufmerksamkeit verspricht. Dann suche man selektiv nach Indizien, die ins Bild dieser Idee passen, und ignoriere alle wissenschaftlichen Daten und Expertenstimmen, die dagegensprechen. Nun verunglimpfe man Fachleute (zu denen man selbst nicht zählt) oder besser gleich das ganze Fach an sich. Und schließlich inszeniere man sich als heldenhafter Aufdecker und Opfer einer "Mainstreamwissenschaft", die die Wahrheit aus Eigennutz vertuschen will. Fertig ist eine lukrative pseudowissenschaftliche Theorie, garniert mit Verschwörungserzählungen, mit der sich Bestseller füllen lassen. Oder eine Netflix-Serie.

Seit Jahrzehnten propagiert Hancock die Behauptung, es könnte schon vor zigtausend Jahren eine Hochkultur gegeben haben, die am Ende der Eiszeit verschwand.
Foto: Netflix

Wie gut das tatsächlich funktionieren kann, zeigt eindrucksvoll die derzeit auf der Streamingplattform erfolgreiche Dokuserie "Ancient Apocalypse", die auf Deutsch unter dem Titel "Untergegangenen Zivilisationen auf der Spur" läuft. Darin nimmt der britische Bestsellerautor Graham Hancock Zuseherinnen und Zuseher mit auf seine Reisen um die Welt, um Einblicke in ein angeblich atemberaubendes, aber vergessenes Kapitel der Menschheitsgeschichte zu geben: eine verschollene eiszeitliche Zivilisation, die schon Jahrtausende früher als angenommen eine fortgeschrittene Hochkultur entwickelt hatte und durch eine katastrophale Flut vor rund 12.500 Jahren spurlos unterging.

Überlegene Zivilisation

Beinahe spurlos: Denn Hancock besichtigt in der Serie rätselhafte Steinbauten, uralte Pyramiden und Tempelanlagen, die seiner Meinung nach die Handschrift dieser verschwundenen Zivilisation tragen könnten. Hancock spekuliert, dass die Überlebenden dieser einstigen Hochkultur den noch unterentwickelten eiszeitlichen Jägern und Sammlern die Landwirtschaft brachten und ihr längst vorhandenes Wissen über Astronomie, Mathematik und Baukunst weitergaben. In anderen Worten: Eine mystische, überlegene Zivilisation koexistierte mit "primitiven" prähistorischen Menschen – und Letztere verdanken ihre spätere Entwicklung dieser verschwundenen Kultur. Hancock begibt sich auf die bildgewaltige Spurensuche nach dieser spektakulären wie problematischen Geschichte.

"Ich habe den Verdacht, dass die Menschheit an einer Amnesie leidet", postuliert Hancock. "Wir haben etwas unglaublich Wichtiges in unserer eigenen Vergangenheit vergessen." Und er will es aus der Vergessenheit holen, um eine "Neuschreibung der Geschichte" einzuläuten.

Eine große Flut soll diese hochentwickelte Eiszeitzivilisation verschlungen haben, wenn es nach Hancock geht. Doch statt seriöse Belege vorzulegen, bedient er Verschwörungsmythen und Expertenfeindlichkeit.
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Behauptungen statt Fakten

Die Vorstellung, Menschen hätten schon viel früher als bisher angenommen einen zivilisatorischen Sprung geschafft, wären sesshaft geworden und hätten bereits während der Eiszeit (Forschende sprechen von der letzten Kaltzeit, die vor etwa 11.700 Jahre zu Ende ging) eine kulturelle und technologische Blüte erreicht, ist faszinierend. Aber sie ist eben genau das, eine Vorstellung. Die von Hancock vertretene Theorie kommt ohne wirkliche Fakten und Beweise aus, widerspricht dafür aber zahlreichen Erkenntnissen und Befunden der archäologischen und historischen Forschung. Hancocks Theorie stützt sich auf gewagte Behauptungen, suggestive Bilder, großzügige Interpretationen, Mythen und Legenden sowie die gekränkte Ablehnung der Archäologie und ihrer Befunde als "Mainstream".

Wie es Hancock, der selbst keinen wissenschaftlichen, sondern einen journalistischen Hintergrund hat, mit der Fachwelt hält, macht er gleich zu Beginn der Serie unmissverständlich klar: "Natürlich stört diese Idee die sogenannten Experten, die darauf bestehen, dass die einzigen Menschen, die während der Eiszeit existierten, einfache Jäger und Sammler waren. Das macht mich automatisch zum Feind Nummer eins der Archäologen." Schnell wird klar, dass Hancock diese angebliche Feindschaft für seine Argumentation dringend braucht und deshalb bei jeder Gelegenheit konstruiert.

Die Pyramide von Cholula im mexikanischen Bundesstaat Puebla ist dem Volumen nach die größte Pyramide der Welt und einer der Schauplätze der Netflix-Serie. Der Baubeginn wird von Fachleuten allerdings auf das dritte Jahrhundert v. Chr. datiert.
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Opfer der "Mainstream-Archäologie"

Seine Theorie sei "für die Mainstream-Archäologie äußerst bedrohlich, denn sie entzieht der gesamten Disziplin den Boden", behauptet der 72-jährige Brite, der nach einem Soziologiestudium an der Uni Durham für mehrere britische Medien arbeitete, ehe er als Autor pseudowissenschaftlicher Bücher reüssierte. Archäologen würden ihn für seine Versuche, die Wahrheit herauszufinden, hassen, sagt Hancock in der Netflix-Serie – und bedient sich eines klassischen verschwörungstheoretischen Kniffs. Weil niemand in der Wissenschaft seine Theorien und Behauptungen ernst nimmt, gibt sich Hancock als Opfer zwielichtiger Eliten aus: Sie sind gegen mich, weil ich der Wahrheit auf der Spur bin!

Tatsächlich wären Archäologinnen und Archäologen wohl ziemlich angetan, hätte Hancock statt spektakulären Behauptungen und Beleidigungen irgendwelche belastbaren Fakten parat. "Jeder Archäologe, den ich kenne, wäre begeistert, eine bisher unbekannte Kultur der Eiszeit zu entdecken. Oder irgendeine unbekannte Kultur, ganz egal welchen Entwicklungsstands", kommentierte der US-amerikanische Archäologe Carl Feagans Hancocks Serie. "Aber eine so außergewöhnliche Behauptung erfordert außergewöhnliche Beweise, empirische Daten, die getestet und überprüft werden können." Und die bleibt Hancock schuldig. Auch Flint Dibble von der University of Cardiff hält fest, dass niemand in der Archäologie Hancock hasse, wie dieser dauernd behaupte. "Wir sind einfach der festen Überzeugung, dass er unrecht hat", schreibt Dibble in einem Beitrag in "The Conversation".

Auch die unterirdische Stadt Derinkuyu im türkischen Kappadokien, in der einst bis zu 20.000 Menschen Platz gefunden haben könnten, hat es Hancock angetan. Sie diente verfolgten Christen zwischen dem 6. und 10. Jahrhundert als Zufluchtsort.
Foto: imago images/Pakhnyushchyy

Keine wissenschaftlichen Publikationen

So darf es auch nicht weiter überraschen, dass Hancock zwar etliche Bücher über seine spekulative Eiszeittheorie in Publikumsverlagen veröffentlicht hat, aber keine seriösen wissenschaftlichen Publikationen vorweisen kann. Mit derlei Kinkerlitzchen hält sich die Netflix-Doku aber auch nicht auf. Stattdessen zeigt sie Hancock vor Hügelgräbern in Nordamerika, neben Pyramiden in Mexiko oder bei Megalithanlagen in Indonesien und Malta. Dort zeigt er auf Steine und Strukturen und erzählt seinen Zuseherinnen und Zusehern, die Geschichte dieser Orte sei womöglich völlig anders, als Archäologen bisher angenommen hätten – vor allem viel älter.

All diese Orte sind jahrtausendealte, faszinierende Kulturstätten und archäologisch hochinteressant. Doch sie sind ausführlich wissenschaftlich dokumentiert – und erst tausende Jahre nach dem Ende der Eiszeit entstanden, mit Ausnahme von Göbekli Tepe: Diese Fundstätte in Anatolien beherbergt eines der ältesten Großbauwerke der Menschheit, Teile der Anlage sind rund 11.000 Jahre alt und dürften Steinzeitmenschen als Kultstätte am Übergang zur Sesshaftigkeit gedient haben. Die Geschichte von Göbekli Tepe gibt Forschenden noch viele Rätsel auf, Hinweise auf Spuren einer noch viel älteren Hochkultur sehen Fachleute aber nicht.

Der steinzeitliche Siedlungshügel von Göbekli Tepe in der Türkei zeugt vom Übergang von Jäger- und Sammlergesellschaften zur bäuerlichen Lebensweise.
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Manipulatives Interview

Und weil es an Beweisen fehlt, dreht Hancock den Spieß einfach um und behauptet, die Wissenschaft würde Fakten nicht anerkennen: "So wie die Archäologie funktioniert, wird es weiterhin großen Widerstand gegen neue Beweise geben, und das ist wirklich problematisch, denn die Wissenschaft sollte offen und bereit sein, ihre Meinung zu ändern, wenn neue Daten darauf hinweisen, dass dies notwendig ist." Etliche Fachleute haben Hancocks Behauptungen bereits widersprochen und das Fehlen neuer Fakten bemängelt – freilich nicht auf Sendung, weil da Expertinnen und Experten fast nur als abstrakte, namenlose "Gegner" vorkommen.

Eine Expertin, die kurz in einer Folge über den neolithischen Tempel von Malta vorkommt, den Hancock als mögliches Eiszeitmonument darstellt (von Fachleuten wird die erste Bauphase wird hingegen auf 3.600 bis 3.200 v. Chr. datiert), kritisierte, ihr Wortbeitrag sei manipulativ geschnitten und aus dem Zusammenhang gerissen worden.

Indes absolviert der US-amerikanische Kampfsportler und bekannte Podcaster Joe Rogan, der zuletzt mit misogynen Aussagen, rassistischen Entgleisungen und Falschinformationen zu Covid-19 von sich hören machte, mehrere Gastauftritte und spricht Hancock seine Bewunderung aus. Ob sich so "die Geschichte der Menschheit neu schreiben" lässt, wie Hancock als Ziel ausgibt?

Rassistischer Mythos

Letztendlich ist "Ancient Apocalypse" ein durchaus aufwendig produziertes "Best of" der Ideen, die Hancock in seinen Büchern schon seit Jahrzehnten propagiert und die sich an Mythen wie dem untergegangenen Atlantis bis hin zu modernen Verschwörungsmythen bedienen. Der Archäologe Flint Dibble hält es gerade angesichts der aktuellen Aufmerksamkeit für angebracht, Hancock nicht einfach zu ignorieren, sondern ihm zu widersprechen: Die letzten Jahre hätten gezeigt, welche dramatischen Folgen Expertenfeindlichkeit und Verschwörungsglaube haben könnten, schreibt Dibble.

Der Archäologe spricht auch noch eine andere problematische Implikation an. Zwar lasse Hancock im Unklaren, um welche Menschen es sich seiner Meinung nach bei der verlorenen Hochkultur gehandelt hat. Doch die Grundidee und ihre Vorläufer öffnen Dibble zufolge rassistischen Überlegenheitstheorien Tür und Tor: Die Behauptung einer hochentwickelten Zivilisation, die "primitive Menschen" überflügelte und der Letztere alles zu verdanken hätten, sei ein wiederkehrender rassistischer Mythos, der indigenen Völkern ihr reiches Erbe absprechen würde.

Stellt sich nur noch die Frage, wie es Hancock mit seiner seit Jahrzehnten von Fachleuten zurückgewiesenen Idee zu einer eigenen Netflix-Serie gebracht hat. Ein Aufregerthema, das auf eine gute Quote hoffen lassen konnte, hatte er jedenfalls im Gepäck. Dass sein Sohn Medienberichten zufolge bei Netflix arbeitet, hat eventuell ebenfalls nicht geschadet. (David Rennert, 3.12.2022)