Jiang Zemin im Jahr 2002.

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Immer wieder hat es in den vergangenen Jahren Falschmeldungen über das Ableben des am 17. August 1926 im ostchinesischen Yangzhou geborenen Jiang Zemin gegeben. Oder über die Absprache mit ihm, die sein Nach-Nachfolger, Chinas heutiger starker Mann Xi Jinping, in die Wege geleitet habe. Doch beide immer wieder verbreiteten Nachrichten entpuppten sich stets nur als Gerüchte. Nun aber kommt die Meldung von Chinas staatlicher Nachrichtenagentur Xinhua: Jiang Zemin ist im Alter von 96 Jahren am Mittwoch verstorben. Als Todesursachen wurden eine Leukämie-Erkrankung sowie multiples Organversagen angegeben.

Auch in China wusste zuletzt kaum noch jemand den Wortlaut der Jiang'schen Lehre zur Modernisierung der KP zu nennen. Er wollte damit aus der Avantgarde des Proletariats eine Volkspartei machen, der auch patriotische Unternehmer, mithin Chinas Kapitalisten, beitreten durften. Jiangs Bedeutung war so auf alle chinesischen Ewigkeiten gesichert. Aber er und sein direkter Nachfolger Hu Jintao öffneten zugleich der endemischen Korruption Tür und Tor, weil sich unter ihnen Partei- und Wirtschaftsmacht verbanden.

"Der Mann, der China veränderte"

Dabei hatte der vermeintliche Ruheständler Jiang Anfangs noch viel Einfluss ausgeübt. Das bekam Hu am stärksten zu spüren. Es gab 2002 sogar einen geheimen Politbürobeschluss, Jiang vor allen wichtigen Entscheidungen zu konsultieren. Das enthüllte der von Chinas Behörden bei seinen Recherchen unterstützte ausländische Biograf Robert Lawrence Kuhn in seinem Buch über Jiang: "Der Mann, der China veränderte" (2005).

Jiang führte vor Xi länger als alle anderen seit Mao die Volksrepublik an, von 1989 bis 2002 – zuerst als Parteichef, dann als Staatschef und später als Armeechef in Personalunion. Zwei Highlights sichern seinen Platz in der Pekinger Geschichte: Er übernahm die Führung Chinas nach der schweren politischen Krise des Tian'anmen-Massakers vom 4. Juni 1989 und hielt Kurs. Unter seiner Herrschaft wurde 1997 auch die ehemalige britische Kronkolonie Hongkong wieder chinesisch.

Eigentlich erntete er nur die Früchte der Politik "Ein Land, zwei Systeme", die der Reformstratege Deng Xiaoping entwickelt hatte. Aber die gesamte Welt sah Jiang mit seiner großen Hornbrille, wie er am 1. Juli 1997 triumphierend Hongkong aus den Händen der Briten übernahm. Sie prägten sich das Gesicht ein. Zumal unter ihm China zur wirtschaftlichen und politischen Großmacht aufstieg.

Der Überraschungsmann

Anfangs hatte es nicht danach ausgesehen, als Deng nach dem Tian'anmen-Debakel überraschend den damaligen Schanghaier Parteichef nach Peking holte, um den Scherbenhaufen wieder zusammenzufügen. Jiang sträubte sich anfangs. Die Partei plagten Untergangsängste angesichts des Zusammenbruchs im Ostblock und der sich bald auflösenden Sowjetunion. Keiner erwartete, dass der Parteitechnokrat ohne Hausmacht mit typischer Ingenieursausbildung, dessen Karriereweg über ein Praktikum in einer Autofabrik der Sowjetunion und das Maschinenbau-Ministerium in Peking führte, mehr als eine Übergangslösung sein würde.

Jiang aber bewies Stehvermögen. Er holte sich Schanghaier Vertraute wie seinen späteren Premier Zhu Rongqi nach. Zugleich durchbrach er die Sanktionspolitik des Westens und die Isolierung Chinas, indem er pragmatisch sein Land für einstige "Parias" wie Taiwan, Südkorea, Israel und Südafrika und damit für frisches Kapital öffnete. Der greise Deng zwang Jiang 1992 ungeachtet allen Dogmatismus dazu, die Marktwirtschaft unideologisch zu umarmen. Nun kam auch der Westen wieder zurück. Jiang gewann in der Armee Vertrauensleute – er ernannte mehr als 80 neue Generäle – und manövrierte Widersacher in der Partei ins Abseits.

Warnung vor dem Untergang

13 Jahre nach seiner Amtsübernahme in Peking hinterließ er dann seinem Nachfolger Hu ein Land auf dem Weg zur Weltmacht. Zusammen mit Premier Zhu war Jiang zuvor ein Meisterstück gelungen: Nach Jahren mühsamer Verhandlungen hatten sie die halbreformierte Planwirtschaft der Volksrepublik 2001 in die Welthandelsorganisation (WTO) gebracht. Der Beitritt wurde zum marktwirtschaftlichen Sprungbrett für Chinas Aufstieg zur zweitgrößten Volkswirtschaft nach den USA. Jiang bewerkstelligte zudem den ersten friedlichen Machtwechsel in der Volksrepublik, zog aber seinen eigenen Abschied in die Länge. 2002 gab er das Amt als Parteichef ab, 2003 dann das des Staats- und 2004 jenes des Armeechefs.

Im Hintergrund blieb er über symbolische öffentliche Kurzauftritte oder durch seine Bücher präsent. Das hörte auch nicht mit dem Amtsantritt von Xi Jinping 2012 auf. Vor der Wahl von Xi erschien ein neues Buch zur chinesischen Geschichte mit einem Vorwort von Jiang. Er warnte darin, dass zu schnell aufgestiegene Dynastien mit falscher Entwicklungspolitik, unkontrollierter Korruption und zu starkem Zentralismus rasch wieder untergingen.

Härte gegen die Opposition

Jiang war wie alle KP-Chefs ein Betonkopf, wenn es um Dissidenten ging. Die Bekämpfung der Falun-Gong-Meditationsgruppen machte er zu seiner Chefsache und ließ sie vom 25. April 1999 an unbarmherzig und brutal verfolgen, nachdem 10.000 Falun-Gong-Anhänger in einer friedlichen Protestkundgebung seinen Regierungssitz umstellt und Chinas Sicherheitsbehörden nichts davon bemerkt hatten.

Doch Jiang verstand sich selbst auch als Gelehrten. Er liebte Musik, spielte sie auch selbst und reagierte für einen Parteichef verblüffend spontan. Als die drei italienischen Tenöre China besuchten, sang er mit ihnen. Er sprach Englisch, Russisch, Rumänisch, radebrechte auch in Japanisch und Deutsch. Er liebe die Poesie Goethes und konnte auf Deutsch eine Strophe aus dem "Erlkönig" rezitieren. Politikern aus den USA trug er die Gettysburger Rede von Abraham Lincoln auf Englisch vor, dachte aber selbst in marxistischer Orthodoxie.

Jiang verhandelte oft knallhart in mehreren Krisen mit Washington über Chinas WTO-Beitritt, über die US-Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad im Jahr 1999 oder über den brisanten Luftzwischenfall vor Hainan mit einem US-Spionageflieger im April 2001. Doch er unterstützte die USA sofort nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001, kam mit Bill Clinton ebenso gut aus wie mit George W. Bush. Es war eine Hassliebe zu den USA, wie sie auch seine Nachfolger lange prägte. (Johnny Erling, 30.11.2022)