In der Station Schottentor wurde ein Polizist erstmals auf eine psychisch Kranke aufmerksam, die kurz darauf versucht haben soll, in der Straßenbahn auf eine 24-Jährige einzustechen.

Foto: Regine Hendrich

Wien – Im ersten und offenbar bisher einzigen Schizophreniebericht des heimischen Gesundheitsministeriums, der im Jahr 2008 veröffentlicht wurde, ist zu lesen, dass rund 0,6 Prozent der Bevölkerung von dieser psychischen Erkrankung betroffen sind. Christine M. ist eine davon. Was dazu führte, dass die 56-Jährige vor einem Geschworenengericht unter Vorsitz von Petra Schindler-Pecoraro ist, da sie am 8. August versucht haben soll, eine 24 Jahre alte Frau in einer Straßenbahn der Linie 43 mit einer Schere zu erstechen.

An sich wäre das aus Sicht der Staatsanwältin ein Mordversuch, da M. aufgrund ihrer Krankheit aber zurechnungsunfähig ist, ist die unbescholtene Österreicherin nicht als Angeklagte, sondern als Betroffene hier. Die Anklagebehörde hat nämlich ihre Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher beantragt.

"Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat"

Die eher zierliche Betroffene will das vermeiden. "Ich hatte die Schere in der Hand, aber ich bestreite die Tötungsabsicht", antwortet sie auf die Frage der Vorsitzenden, ob sie sich schuldig bekenne. "Ich hatte das Gefühl, die ganze Welt kommt mir zu nahe", erklärt M., warum sie das Schneidwerkzeug zückte, nachdem sich die 24-Jährige auf den Platz vor ihr gesetzt hatte. "Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat", sagt die Betroffene – und: "Ich wollte, dass sie panischen Schrecken bekommt und weggeht."

Auf den in der Garnitur zufällig anwesenden Kriminalbeamten Daniel E. muss die Situation bedrohlicher gewirkt haben. Ihm war M. bereits in der Station Schottentor aufgefallen, wo sie auf einer Bank saß und die 22 Zentimeter lange Schere aus einer Tasche holte. "Die Frau neben ihr hat offenbar Angst bekommen und hat sich entfernt", erinnert sich der Beamte. Nachdem sich die Betroffene gesetzt hatte, blieb der Kriminalist in der Nähe und behielt sie im Auge. Als kurz darauf die 24-Jährige Platz nahm, sah der Beamte, wie M. den rechten Arm mit der Schere in der Hand hob. "Sie machte eine Ausholbewegung gegen Kopf, Genick oder Hals", erzählt der Zeuge.

Polizist außer Dienst schritt ein

Mit wenigen Schritten war er bei der 56-Jährigen und fixierte die Hand mit der Schere, wie auf den Überwachungsvideos aus der Tramway zu sehen ist. Die geschockte 24-Jährige alarmierte E.s Kollegen, während der Polizist die Betroffene unter Kontrolle behielt, die Schere konnte er ihr allerdings erst nach geraumer Zeit entwinden. Auf Nachfrage von Beisitzerin Nicole Baczak, was seiner Meinung nach der Grund für den Angriff war, antwortet der Beamte: "Ich glaube, Frau M. hatte ein Problem mit Nähe." Noch etwas verrät der Zeuge: Er hat sich offenbar so auf Frau M. konzentriert, dass er irrtümlich in die falsche Tramway eingestiegen sei. "Das war Pech. Oder Glück", meint er. "Oder Schicksal", merkt die Staatsanwältin an. "Oder Schicksal", stimmt der Polizist ihr zu.

Die 24-Jährige selbst sagt, sie habe weniger mitbekommen. Die Betroffene habe hinter ihr irgendetwas gemurmelt. Als sie sich umdrehte, sah sie die Schere, sprang auf und brachte sich in Sicherheit. Nachtragend ist sie nicht: Die Entschuldigung von M., die die Zeugin mit "Sehr geehrtes Fräulein" anspricht, nimmt sie an. "Gott sei Dank ist ja nichts passiert", sagt sie lächelnd.

Der psychiatrische Sachverständige Peter Hofmann wirft dann mit seinem Gutachten ein anderes Licht auf den Fall. Frau M. stamme "aus einer netten Familie", habe Studien begonnen, dann einen Beruf ausgeübt – bis bei ihr im Jahr 1999 die paranoide Schizophrenie diagnostiziert wurde. "Die Krankheit verschlechterte sich bei ihr über die Jahre", konstatiert Hofmann, auch ein "erheblicher Alkoholmissbrauch" kam dazu. Im ersten Halbjahr wurde M. sechsmal nach dem Unterbringungsgesetz zwangsweise in eine psychiatrische Abteilung gebracht, einmal wurden bei ihr bei der Aufnahme 3,7 Promille gemessen.

Betroffene glaubte, dass sie getötet werden soll

Wenn sie in einer Einrichtung ist, nehme die Betroffene auch die verschriebenen Medikamente, das Problem entstehe, wenn sie wieder daheim sei, dann lasse die Einsicht in die Behandlungsnotwendigkeit nach, sie setze die Medikamente ab und werde "hochaggressiv". Der Gutachter glaubt auch nicht an die Erklärung, dass M. mit der Schere nur Abstand schaffen wollte. "Sowohl die einschreitenden Polizisten als auch bei der Aufnahme war sie der Überzeugung, dass sie exekutiert werden soll. Ich vermute, dass sie die Schere bereits in den Tagen davor dabeihatte, um sich wehren zu können", sagt Hofmann.

Derzeit spreche sie gut auf die Medikamente an, die Ärzte in der Justizanstalt hätten das Ziel, Frau M. eine Depotspritze mit dem entsprechenden Wirkstoff zu geben, die nur einmal alle drei Monate benötigt wird. Dieses Ziel könne "in naher Zukunft erreicht werden", ist er überzeugt, derzeit sieht der Psychiater allerdings keine Chance auf eine lediglich bedingte Einweisung unter Auflagen, da sie zu gefährlich ist.

Im Schlussplädoyer sieht die Staatsanwältin die Voraussetzungen für den Mordversuch und die Einweisung als erfüllt an. Verteidigerin Anita Schattner sieht das anders: "Frau M. wollte Abstand. Sie war unruhig, aber ich glaube nicht, dass sie jemanden töten wollte", appelliert sie an die Laienrichterinnen und -richter, als Anlasstat für die Einweisung keinen Mordversuch, sondern lediglich schwere Nötigung anzunehmen.

Einstimmige Entscheidung der Geschworenen

Die Geschworenen folgen dieser Argumentation: Vom Vorwurf des Mordversuchs sprechen sie M. einstimmig frei, ebenso ohne Gegenstimme sehen sie die schwere Nötigung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit als gegeben. Vorsitzende Schindler-Pecoraro verkündet anschließend die Einweisung der Betroffenen in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Das akzeptieren sowohl M. als auch die Staatsanwältin, womit die Entscheidung rechtskräftig ist. (Michael Möseneder, 30.11.2022)