Hunderttausende Menschen sollen die Lücken im kanadischen Arbeitsmarkt schließen.

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Eigentlich hat Kanada die USA schon lange überholt. Die Vereinigten Staaten gelten gemeinhin als "Schmelztiegel" der Welt, wohin Menschen aus anderen Ecken des Globus einwandern und wo sie schlussendlich die gleichen Möglichkeiten vorfinden. Doch nur 14 Prozent der US-Bevölkerung sind eingewandert. Anders ist das beim nördlichen Nachbarn: In Kanada ist fast jede vierte Person aus einem anderen Land zugewandert – der höchste Wert unter den größten Industrienationen, den Ländern der G7.

Und die Regierung in Ottawa will noch einen Gang höherschalten. Bis 2025 sollen fast 1,5 Millionen Menschen in das Land geholt werden, um jene Babyboomer am Arbeitsmarkt zu ersetzen, die nun in Pension gehen. Denn die Geburtenrate ist – wie in vielen westlichen Ländern – zu gering, um die Anforderungen des Arbeitsmarktes zu erfüllen. Rund eine Million Jobs sind im Moment offen. Schon jetzt ist das Wachstum im Hinblick auf die Arbeitskräfte in Kanada fast ausschließlich auf Immigrantinnen und Immigranten zurückzuführen. Bis 2032 soll das laut Schätzung auch für das allgemeine Bevölkerungswachstum der Fall sein.

Punktesystem für Aufenthaltstitel

Doch wie sollen die fast 500.000 Menschen pro Jahr ausgewählt werden?

Das kanadische Einwanderungssystem konzentriert sich auf wirtschaftliche Zuwanderung und nicht auf Familienzusammenführungen. Fast die Hälfte aller Einwanderer kommt so nach Kanada. In den USA ist es nur ein Fünftel, in Großbritannien nur ein Viertel.

In den 1960er-Jahren hat sich Ottawa entschlossen, nicht mehr auf Länderquoten zu setzen, sondern ein System einzuführen, das die Ausbildung und Fähigkeiten der einzelnen Personen einbezieht. Anhand eines Punktesystems wird so eruiert, welche Einwanderer bevorzugt behandelt werden und einen unbegrenzten Aufenthaltstitel erhalten.

Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten verlangen die kanadischen Behörden nicht, dass die Immigranten bereits eine Jobzusage haben und der künftige Arbeitgeber oder Arbeitgeberin für sie bürgt. Doch bringt ein vorhandenes Angebot Punkte für das System.

Kritische Stimmen

Australien und Neuseeland haben ähnliche Konzepte. Wobei Australien quasi auf eine Mischung aus dem US-amerikanischen und dem kanadischen System baut. Auf der einen Seite wird Wert darauf gelegt, dass Menschen bereits eine Stelle im Land haben, doch wird es Schlüsselarbeitskräften ermöglicht, auch ohne Jobzusage einzureisen und sich erst vor Ort um einen Arbeitsplatz zu bemühen.

Prinzipiell sind die Kanadierinnen und Kanadier offen für mehr Zuwanderung – ein Aufschrei wie man ihn bei einer vergleichbaren Ankündigung in europäischen Ländern erwarten würde, blieb aus. Doch mehren sich kritische Stimmen in der öffentlichen Debatte. In einer Umfrage unter 1.537 kanadischen Staatsangehörigen, die das Institut Leger gemeinsam mit der Gesellschaft für Kanada-Studien durchgeführt hat, zeigen sich drei von vier Befragten besorgt, welche Auswirkungen die knapp 1,5 Millionen Einwanderer auf den Wohnungsmarkt oder Sozialleistungen haben werden. Für rund die Hälfte der Befragten ist die Zahl zudem zu hoch.

Angst um Französisch

Der Premier der kanadischen Provinz Québec meldete sich sogleich und gab an, dass man nicht mehr als 50.000 Menschen jährlich aufnehmen könne. Damit würde die frankophone Provinz, in der fast ein Viertel aller Kanadierinnen und Kanadier leben, nur ein Zehntel aller geplanten Immigranten aufnehmen. Der Grund: Man sei besorgt, dass Französisch als Sprache durch die Zuwandererinnen und Zuwanderer gefährdet sei. Mitte Dezember wollen die Behörden Québecs deshalb einen Plan vorlegen, der frankophone Immigranten bevorzugt.

Doch nicht nur wirtschaftliche Zuwanderung will die Regierung Kanadas fördern. Auch die Zahl der aufgenommenen Geflüchteten soll weiterhin hoch bleiben. Bis 2023 sollen laut Plan 76.000 Flüchtlinge angesiedelt werden. (Bianca Blei, 10.12.2022)