Jiang Zemin war zehn Jahre lang Präsident von China.

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Jiang Zemin ist tot. Der 96-Jährige war zwischen 1993 und 2003 Präsident der Volksrepublik Chinas, er ist am Mittwoch an Blutkrebs und Organversagen verstorben.

Wie sehr sich das damalige China von dem heutigen Land unterscheidet, darüber gibt ein Interview Aufschluss, das Jiang kurz vor der Übergabe Hongkongs 1997 an die Volksrepublik gab. Eine Reporterin fragt Jiang etwas über die Ernennung von Tung Chee-hwa zum ersten "Chief Executive" der Sonderverwaltungszone Hongkong.

Jiang gefällt die Frage der Reporterin nicht. Doch anstatt sie zu ignorieren, verliert er auf sympathische und witzige Art die Fassung. Er beschwert sich auf Mandarin über mangelnde Kenntnisse der Journalistin, streut Worte auf Kantonesisch als auch auf Englisch ein, steht auf, lacht, deutet mit dem Finger, grinst, setzt sich wieder. Doch die Szene hat nichts Herabwürdigendes gegenüber der Fragenstellerin. Auch die Anwesenden lachen – aber aus Anerkennung und Ehrfurcht. Es scheint, als gäbe es eine Art Nähe und Respekt zwischen den Regierenden und Regierten.

Nahbarer Präsident

Ein Interview dieser Art mit dem amtierenden Präsidenten Xi Jinping ist völlig undenkbar. Xi regiert nicht erst seit den Zero-Covid-Bestimmungen abgeschirmt und abgehoben vom Volk und enthält sich jeder nur erdenklichen kritischen Frage.

Das China Jiangs war auf Integration in die Welt ausgerichtet. In seine Regierungszeit fällt der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation. Dies erst ermöglichte den beispiellosen Wirtschaftsaufschwung, den das Land nach 2001 erfuhr – und an dem die ganze Welt mitverdiente. Auch sein Nachfolger Hu Jintao stand noch unter dem Eindruck dieser Ära. Die Olympischen Spiele in Peking 2008 und die Weltausstellung 2010 in Schanghai zeigten der Welt: China öffnet sich.

Leben mit der Angst

Davon ist 2022 nichts mehr zu spüren. Wer nach China will, muss ein kompliziertes Prozedere an Corona-Tests über sich ergehen lassen. Die meisten noch verbliebenen Ausländer wollen weg. Und die 1,3 Milliarden Chinesen leben täglich mit der Angst, positiv getestet und in ein Quarantänelager abtransportiert oder für Wochen in der eigenen Wohnung eingesperrt zu werden.

China hat sich verschlossen und tritt gleichzeitig außenpolitisch immer aggressiver auf. Und so macht der Tod des 96-Jährigen nochmals deutlich, wie dramatisch sich die Zeiten geändert haben.

Aber zu glauben, das China von damals sei "gut" gewesen, sagt wahrscheinlich mehr über die Illusionen aus, die sich der Westen damals gemacht hat. Weil man an "Wandel durch Handel" glaubte und sich westliche Unternehmen eine goldene Nase in China verdienten, sah man gerne über einiges hinweg – und verklärt es im Nachhinein.

Härte auch unter Jiang

Jiang Zemin ging mit aller Härte gegen die Falun-Gong-Sekte vor. Er schuf die "bewaffnete Volkspolizei", eine Art paramilitärische Einheit, die innerhalb eines Jahres 350.000 Menschen verhaftete und 4000 Todesurteile vollstreckte. Unter Jiang wurde auch die Pressefreiheit weiter eingeschränkt und zahlreiche Dissidenten verhaftet.

Als 1989 die Panzer auf dem Platz des Himmlischen Friedens auf Studenten schossen, war Jiang gerade Bürgermeister von Schanghai. Den Einsatz von Gewalt in seiner Stadt sagte er damals ab, er befürwortete aber öffentlich die Einführung des Kriegsrechts, die den Gewalteinsatz in Peking erst ermöglichte. (Philipp Mattheis, 30.11.2022)