EU-Kommissionsvize Dombrovskis, Budgetkommissar Hahn und Justizkommissar Reynders (von links) geben ihre Empfehlung ab.

Foto: APA / AFP / Kenzo Tribouillard

Heikle Entscheidungen mit erheblichen Konsequenzen für ein Mitgliedsland werden in der EU selten rasch getroffen. Schon gar nicht werden sie von nur einer Institution herbeigeführt. So ist das auch im Fall Ungarn, gegen das seit Jahren EU-Verfahren wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit, Korruption oder der Gängelung von Justiz und Medien durch die Regierung von Premier Viktor Orbán laufen.

Der nationalpopulistische Politiker droht den Partnern immer wieder mit Vetos in wichtigen Fragen, etwa bei Sanktionen gegen Russland oder Finanzhilfen für die Ukraine. Kommende Woche steht bei den EU-Finanzministern die Genehmigung von 18 Milliarden Euro Zahlungshilfen für Kiew an.

Die Auseinandersetzung mit Orbán, der sein Land oft unverhohlen gegen "die EU" aufhetzt, hat also erhebliche Tragweite für alle, für die ganze Union. So ist es kein Wunder, dass Vizepräsident Valdis Dombrovskis, Justizkommissar Didier Reynders und der für das EU-Budget zuständige Österreicher Johannes Hahn sich am Mittwoch bei einer Pressekonferenz in Brüssel erkennbar jede Mühe gaben, den "Fall Ungarn" so klar und behutsam, so sachlich wie möglich vorzutragen.

Fortschritte reichen nicht

Das Kollegium der Kommission hatte am Mittwoch eine historische Maßnahme gesetzt. Sie macht die Androhung vom Sommer wahr, die Auszahlung von insgesamt 13,3 Milliarden Euro an Förderungen für Ungarn aus EU-Budgets bis auf weiteres einzufrieren. Basis ist der neue Mechanismus zur Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit, der erstmals überhaupt zur Anwendung kommt.

Seit September sei klar gewesen, dass die Regierung in Budapest konkrete Maßnahmen vorlegen muss, erklärte Hahn, um die korrekte Verwendung von EU-Geldern und einen funktionierenden Rechtsstaat garantiert sicherzustellen. Zwar habe es Fortschritte, brauchbare Vorschläge "in die richtige Richtung" gegeben, Ungarn habe sich "bewegt". Aber es reichte bis zur Fallfrist Mitte November nicht.

Geduld (fast) am Ende

"Sie sind nicht da, wo wir sie haben wollen", sagte Hahn in Brüssel vor Journalistinnen und Journalisten merklich genervt von der Salamitaktik, mit der Ungarn zizerlweise nur kleine Schritte macht. Er habe keine Geduld mehr für Versprechungen, Bekenntnisse und Zugeständnisse. Insbesondere, da Orbán in Ungarn ein System errichtet hat, in dem es für gewöhnlich "nicht gerade sehr viel Abstimmungsbedarf gibt", wenn er Dinge wirklich durchsetzen möchte, sagte Hahn.

Die Fehler könnten ausgebügelt werden: durch Schaffung einer Integritätsbehörde, indem eingestellte Korruptionsfälle von Staatsanwälten erneut untersucht, Interessenkonflikte vermieden werden.

Die Kommission habe sich nach genauer Prüfung der Faktenlage aber entschlossen, die EU-Subventionen so lange nicht auszuzahlen, bis Orbán "geliefert hat", bis die rechtsstaatlichen "Meilensteine" umgesetzt sind, wie Reynders klarstellte. "Es wird auch keine Teilauszahlungen geben", sagte der Justizkommissar. Dazu gehört, dass ein Justizrat aus Richtern bestimmt, was im Justizsystem richtig oder falsch läuft, nicht die Regierung. Das ungarische Höchstgericht müsse vollkommen unabhängig sein von Orbáns Zugriff. Richter müssten sich wieder direkt an den Europäischen Gerichtshof wenden können, ohne Genehmigung von oben.

Entscheidung liegt bei Finanzressorts

Der Anforderungskatalog bleibt ein Vorschlag. Ob dieser umgesetzt wird, darüber müssen die EU-Finanzminister bei ihrer Ratssitzung nächste Woche entscheiden. Bei ihnen liege nun die Verantwortung, ob die EU ihre Werte durchsetzt, so Hahn. Für einen Beschluss reicht die qualifizierte Mehrheit der Staaten. Da aber auch andere wichtige Themen auf der Tagesordnung stehen, die Ukrainehilfe oder die Mindestbesteuerung für Unternehmen in der EU etwa, rauchen die Köpfe ob eines möglichen Orbán-Vetos.

Es wird befürchtet, dass der ungarische Ministerpräsident die Themen miteinander junktimieren wird, erneut Aufschub verlangt. Doch der Geduldsfaden der Kommission scheint nicht mehr allzu lang zu sein. (Thomas Mayer, Fabian Sommavilla aus Brüssel, 30.11.2022)