Poet und Anstoß zu Diskussionen: Peter Handke.

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Bei einer dreitägigen Tagung mit dem Namen "Ich komme von Tolstoi, von Homer, von Cervantes", die heute, Donnerstag, an der Universität Wien beginnt, wird neben vielen anderen Themen auch nochmals die Jugoslawien-Debatte anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Peter Handke aus dem Jahr 2019 aufgenommen. Ziel sei es, "dem (selbst-)erklärten Herkommen Handkes aus der Welt der Literatur, das immer wieder auch zu idiosynkratischen Reaktionen auf politische und ideologische Einsprüche und Widerreden führte, durch vergleichende Lektüren nachzuspüren", so die Veranstalter.

Einer der Redner ist der Literaturwissenschafter Vahidin Preljević aus Sarajevo, der dieses Jahr mit dem Germanisten Clemens Ruthner den Band "Peter Handkes Jugoslawienkomplex, Eine kritische Bestandsaufnahme nach dem Nobelpreis" bei Königshausen & Neumann herausgegeben hat. In dem fast 340 Seiten umfassenden Band ordnen zwanzig Autoren und Autorinnen, Literaturwissenschafter, aber auch Schriftsteller wie Slavoj Žižek, Saša Stanišić, Barbi Marković und Alida Bremer auf Deutsch und Englisch die Kritik an Handkes Büchern und Aussagen zu den Kriegen gegen Bosnien-Herzegowina (1992 bis 1995) und im Kosovo (1999) ein.

Milošević als authentischer Anderer

Den Herausgebern geht es darum, "der bei dieser Debatte besprochenen, aber kaum selbst zu Wort kommenden, ja entmündigten Westbalkan-Region eine Stimme" zurückzugeben, aber auch um eine literaturhistorische Einordnung. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek beschreibt etwa Handkes frühe Texte über Slowenien als ein Beispiel für "Interpassivität", also den Wunsch, "authentisch zu sein durch einen Anderen, der authentisch für einen lebt". Dies sei aber nicht gutgegangen, weil "die Slowenen sich nicht mehr so verhielten", dass Handke sich durch sie authentisch fühlte. "Kein Wunder also", so Žižek, "dass er sich Serbien als letztem Überbleibsel von Authentizität in Europa zuwendet". Die größte Ironie dabei sei, dass er Milošević, den Politiker, der am meisten für das Ende Jugoslawiens verantwortlich sei, als "seinen authentischen Anderen" gewählt habe, der es ihm ermöglichte, an seiner jugoslawischen Nostalgie festzuhalten.

Völker als Naturmächte

Auch Vahidin Preljević meint, dass das "Phantasma eines authentischen Realen" die Grundlage der Jugoslawien- (und Balkan-)Imagination in Peter Handkes Texten sei. "Die imaginäre Geografie, die bisher in der ästhetischen Sphäre entfaltet wurde, wird nun auf das Feld der Geschichte und Politik übertragen", analysiert er. So sei auch zu erklären, wie "es dazu kommen konnte, dass ein namhafter österreichischer Autor wie Peter Handke heute als Symbolfigur des radikalen serbischen Nationalismus fungiert".

Preljević verweist auf Handkes Gegnerschaft zur "Westwelt" und auf seine "radikale entdifferenzierende Kollektivsemantisierung", die Menschen vor allem als Teile von "Völkern" vermittelt, also ethnisiert. "Die Komplexität der Geschichte mit ihren vielfältigen Akteuren wird auf ein überschaubares Geschehen reduziert, in dem Völker mit ihren Emotionen schlussendlich als Naturmächte auftreten", so Preljević. Gleichzeitig werde der "Westen" beschuldigt, diese "Höllenmaschine" in Gang gesetzt zu haben. Diese Diskursmuster tauchen übrigens teilweise wieder auf, wenn es um den derzeitigen Krieg gegen die Ukraine geht.

Zunder der Debatte: (Un)Kenntnis der Geschichte

Manche von Handkes Texten zu dem Thema seien "ohne das Wissen um diverse südslawische kulturelle Codes" oder "Diskursmuster" gar nicht verständlich, meint Preljević und trifft da einen wichtigen Punkt. Denn das "Wissen" oder eben "Nichtwissen" ist wohl der Hauptgrund für die Hitze der Debatte. Auf einer Seite finden sich nämlich diejenigen, die um die geschichtlichen Ereignisse, die Diskursmuster und Ideologien in der Region Bescheid wissen, und auf der anderen Seite gibt es viele Leser und Leserinnen von Handke, die sich mit Südosteuropa nicht tiefgründig und historisch auseinandergesetzt haben. Das müssen sie auch nicht. Aber sie können wohl auch deshalb nicht verstehen, weshalb Erstere Kritik üben.

Höhere Wahrheiten, reale Verbrechen

Die Autorin Bettina Balàka meint im Zusammenhang mit historischen Fakten, dass Literatur durchaus eine "höhere Wahrheit" aufzeigen könne. Dies sei aber heikel. "Denn im Falle völligen Realitätsverlustes gebärdet sie sich unter Umständen wie eine Religion", moniert sie. Alida Bremer kritisiert sehr konkret das Plädoyer von Eugen Ruge, der offenbar keine Kenntnis davon habe, dass Handke den wegen Kriegsverbrechen zu lebenslanger Haftstrafe verurteilten Mörder und Vergewaltiger Milan Lukić als "Barfüßler" poetisierte.

Es gibt tatsächlich viele Europäer, die nicht wissen, dass nach den brutalen Vertreibungen und "ethnischen Säuberungen", etwa in Višegrad, wo Lukić mordete, kaum noch Muslime leben. Doch Bremer fordert ein, dass man sich kundig macht, bevor man urteilt. "Handke mag rhetorische Fragen stellen, auf die er angeblich keine Antwort kennt, doch die Kriegsverbrechen der serbischen Milizen in der Stadt wurden vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausführlich verhandelt und sind bestens dokumentiert." Die Kriege gegen die unabhängigen Staaten Kroatien und Bosnien-Herzegowina und der Krieg im Kosovo gehören tatsächlich zu den besterforschten Kapiteln der Geschichte.

Naive Reproduktion nationalistischer Inhalte

Ruthner spricht von einer Strategie Handkes der "Relativierung durch victim blaming", wenn er den Genozid an den Bosniern mit muslimischen Namen, also den Bosniaken, im Juli 1995 als "Rachemassaker" darstellt. "Während er also dazu neigt, das Leiden der Opfer zu relativieren oder die Aggression der Täter zu entschuldigen, hat sich Handke nie zu einer klaren Verurteilung des Völkermordes durchgerungen, die ohne ein qualifizierendes 'Wenn' oder 'Aber' auskommt", kritisiert Ruthner.

Im besten Fall wirke es so, als habe Handke Formulierungen und Denkstrukturen, die ihm einige seiner radikalen serbischen "Informanten" vermittelt hätten, einfach naiv reproduziert. Ruthner bietet auch eine These, die für Österreich interessant ist. Er meint nämlich, dass Serbien für Handke "eine Übertragungsneurose" geworden sein könnte. "In diesem Sinne würde das seltsame wie trotzige Mäandern seiner 'jugoslawischen' Texte implizit mehr über die österreichische Vergangenheit als über Serbien aussagen", denkt er. "Die inkriminierten Reiseberichte wären so eine Art Stellvertreterkrieg in Bezug auf die Verdrängung und Verlogenheit seiner Heimat nach 1945, die der frühe Handke noch kritisiert hatte, während er im fortgeschrittenen Alter selbst nichts anderes als eine latent revisionistische Haltung zum Völkermord in Bonien-Herzegowina einnehmen wollte."

Kritik und Heldenverehrung

Ruthner merkt an, dass der Nobelpreis an Handke immerhin "die immer noch virulenten Kriegstraumata auf dem Westbalkan dem internationalen Vergessen entrissen hat". Steffen Hendel von der Universität Halle sieht in der Handke-Debatte von 2019 vor allem eine Wiederholung vorher geführter Debatten über dessen politische Urteile zu historischen Ereignissen. Man sei "2019 lediglich darum bemüht" gewesen, denselben Nachweis anhand von Handkes Literarizität, Handwerk und Person zu führen. "Vereinzelt meldeten sich Stimmen gegen diesen von der Literatur getrennten Maßstab – genauer: gegen den moralischen Anspruch an Literatur – zu Wort", so Hendel. In der Vergangenheit habe es insbesondere immer dann eine Debatte gegeben, wenn Handke nicht als "politisch Meinender, sondern ausdrücklich als Autor Würdigung erfuhr", meint Hendel.

Saša Stanišić verweist darauf, wie Handke heute von radikalen revisionistisch-nationalistischen Akteuren in Serbien oder in Bosnien-Herzegowina politisch instrumentalisiert wird. "Täter-Opfer-Komplexe umzukehren und Motive für die Taten zu erfinden, wird von jenen als ideologische Bestätigung gelesen, die Täter und deren Verbrechen huldigen. Als Autor wird man zum verlängerten, künstlerischen Arm der Polit-Propaganda – verehrt als Held von denen, die Täter als Helden verehren", schreibt Stanišić. "Bei historischen Krisen sollte es sehr, sehr gute Gründe geben, sich über historische Tatsachen zu stellen oder eigene Überzeugungen als Gegenrede der Realität entgegenzustellen", gibt er zu denken.

Fake News als Gefahr

Stanišić meint, dass "Behauptungen einer Welt, die im Text unsere Welt sein solle", kein utopischer oder dystopischer Entwurf, keine Science-Fiction sein dürften, sondern den Prüfungen dieser Welt standhalten müssten. Sie sollten "nachvollziehbar sein, messbar, einsehbar". Man brauche Forschung, Forensik, Faktenlage, Gerichtsakte. "Heute umso mehr, in Zeiten, in denen Fake News eine echte Gefahr für die Demokratie geworden sind."

Der Band "Peter Handkes Jugoslawienkomplex" bietet umfassend – zuweilen auch redundant – die Argumente der Kritiker seiner Texte zu Serbien, Bosnien-Herzegowina, zum Kosovo und zu Slowenien. Wer sich mit dem Band befasst, kann viel schlüssiger verstehen, durch welches Denken und auf welchem Wege Handke diese Prosa verfasste. Ruthner und Preljević räumen aber ein, dass sich das Vorhaben, "all das Für und Wider unter einem Buchdeckel zusammenzubringen", "als Ding der Unmöglichkeit" erwiesen habe, "da vor allem die Handke-Verteidiger*innen mit großer Scheu glänzten, an dem Projekt zu partizipieren".

Entschlüsselung

Die anfängliche Frage der Herausgeber bleibt jedenfalls relevant, zudem es auch um ganz reale Menschen mit ganz realen Kriegserlebnissen in Südosteuropa geht, also um Wirklichkeit: "Können die vielen Balkanreferenzen in Handkes Texten ohne Kenntnis der jugoslawischen Geschichte und ohne den kommunikativen Kontext, in dem Handke sich auf dem Balkan bewegt, überhaupt entschlüsselt werden, wie das leider immer noch in einem maßgeblichen Teil der Handke-Forschung geschieht?" (Adelheid Wölfl, 1.12.2022)