Ein schlechter werdendes Kurzzeitgedächtnis oder eine abnehmende Kapazität, komplexe Vorgänge wie Bankgeschäfte durchzuführen, können frühe Zeichen für eine Alzheimer-Erkrankung sein. Ein neues Medikament gibt begründete Hoffnung, das Fortschreiten zu verlangsamen.

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Demenzerkrankungen sind eine der ganz großen zukünftigen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Aktuell sind allein in Österreich rund 100.000 Menschen von einer Form dieser Krankheit betroffen, Tendenz steigend. Schon im Jahr 2050 sollen es etwa 230.000 sein. Das liegt vor allem auch daran, dass die Menschen immer älter werden – und Demenz ist eine Krankheit des Alters. Bei den unter 70-Jährigen sind weniger als drei Prozent der Menschen betroffen, bei den ab 85-Jährigen ist es im Schnitt schon jede fünfte Person. In der Altersgruppe 90 plus erkrankt sogar jede dritte Person.

Ein schlechter werdendes Kurzzeitgedächtnis kann ein frühes Anzeichen für eine Demenzerkrankung sein, ebenso wie ein vermindertes Gefühl für Zeit und Ort oder zunehmende Schwierigkeiten, komplexe Tätigkeiten wie etwa Bankgeschäfte durchzuführen. Das alles überschattende Hauptproblem ist aber: Bei dieser Diagnose gibt es keine Heilung. Und auch die medikamentöse Behandlung kann den Verlauf im besten Fall verlangsamen.

Allerdings wird intensiv an medikamentösen Therapien geforscht. Zuletzt wurde im Juni 2021 in den USA ein umstrittenes Medikament mit dem Wirkstoff Aducanumab mit einem beschleunigten Zulassungsverfahren durch die US-Gesundheitsbehörde FDA auf den Markt gebracht (DER STANDARD berichtete). Die Europäische Arzneimittelagentur EMA erteilte dem Wirkstoff keine Zulassung, zu umstritten war das Ergebnis der Zulassungsstudien. Außerdem hatten 40 Prozent der Personen, die das Medikament einnahmen, Gehirnschwellungen als Nebenwirkung. Mittlerweile wird das Medikament auch in den USA nicht mehr vermarktet.

Phase-III-Studie abgeschlossen

Nun gibt es vielversprechende Ergebnisse in der Forschung zu einem weiteren Medikament. Der monoklonale Anti-Amyloid-Antikörper Lecanemab, den der US-Biotechnologiekonzern Biogen und das japanische Pharmaunternehmen Eisai gemeinsam entwickelt haben, zeigte in einer Phase-III-Studie eine statistisch signifikante Verlangsamung des klinischen Krankheitsverlaufs bei Alzheimer im Frühstadium. Die Daten wurden vor kurzem auf dem CTAD-Kongress (Clinical Trial on Alzheimer's Disease) in San Francisco vorgestellt und zeitgleich im Fachjournal "New England Journal of Medicine" veröffentlicht.

An der Studie nahmen 1795 an einer leichten Demenz erkrankte Personen teil, die über einen Zeitraum von 18 Monaten entweder mit Lecanemab oder einem Placebo behandelt wurden. Laut der Studie konnte Lecanemab im Vergleich zur Kontrollgruppe die Amyloid-Marker reduzieren und den Abbau der kognitiven Fähigkeiten um 27 Prozent verlangsamen. Das entspricht einer Differenz von 0,45 Skalapunkten auf dem Clinical Dementia Rating – Sum of Boxes-Score (CDR-SB-Score; Bereich 0 bis 18). Mit dem CDR-SB wird das Fortschreiten der kognitiven Beeinträchtigung in den frühen Stadien der Alzheimer-Krankheit verfolgt. Frank Jessen, Psychiater an der Uniklinik Köln und Experte für Früherkennungsforschung und Therapieentwicklung für die Alzheimer-Demenz, betont, das sei ein Meilenstein in der Alzheimerforschung: "Erstmals ist es gelungen, statistisch relevant nachzuweisen, dass eine Reduktion der Amyloide tatsächlich eine Verlangsamung der Krankheit bewirkt."

Doch auch hier gibt es unerwünschte Nebenwirkungen wie etwa Hirnschwellungen, die auch in der Studie beschrieben sind. Nun stellt sich die Frage nach dem für die Zulassung entscheidenden klinischen Nutzen-Risiko-Verhältnis von Lecanemab. Tatsächlich kam es bereits zu zwei Todesfällen, die im Zusammenhang mit dem Medikament stehen sollen. Erst vor wenigen Tagen berichtete das Fachjournal "Science" von einem Todesfall, der ursächlich auf die Therapie damit zurückgehen soll. Diese Todesfälle müssen genauer untersucht werden, ob tatsächlich Lecanemab dafür verantwortlich sein könne, betont Jessen.

Körpereigene Abwehrreaktion

Dennoch sind sich viele Experten einig, dass die vorliegende Studie sehr vielversprechend ist. "Der gewählte Ansatz ruft einen an sich körpereigenen Abwehrvorgang hervor. Denn der Körper kann im Normalfall etwas Fremdes erkennen und dagegen Antikörper bilden, die die Abwehrreaktion hervorrufen", erklärt Walter Schulz-Schaeffer vom Institut für Neuropathologie am Universitätsklinikum Homburg.

Die Ablagerungen, die bei Alzheimer-Betroffenen im Gehirngewebe zu finden sind, bestehen aus einem Abbauprodukt eines körpereigenen Eiweißes. Weil der Körper eines Alzheimer-Kranken diese Ablagerungen nicht als fremd erkennt, bildet er keine Antikörper gegen sie. Deshalb sollen die als Medikamente entwickelten Antikörper den körpereigenen Abwehrprozess anstoßen.

Warum Lecanemab bei diesem Prozess erfolgreicher ist als früher entwickelte Antikörper könnte daran liegen, dass es "gegen eine Frühform der Ablagerungen gerichtet ist und nicht in erster Linie gegen die Ablagerungen selbst. Denn es ist recht wahrscheinlich, dass Frühformen der Alzheimer-Plaques den Schädigungsprozess an den Nervenzellen und damit die Alzheimer-Krankheit auslösen. Die Plaques selbst sind Ausdruck des erfolgreichen Entsorgungsprozesses der schädigenden Frühformen und werden deshalb besser 'in Ruhe' gelassen", erklärt Schulz-Schaeffer.

Stimmige, ermutigende Daten

Stefan Teipel von der Forschungsgruppe Klinische Demenzforschung am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen in Rostock/Greifswald, betont, dass die Studie vollständig ist, nach hohen internationalen Standards durchgeführt wurde und die Daten sehr stimmig und konsistent sind. Nun müsse man diskutieren, wie relevant der Effekt klinisch tatsächlich sei. "In den 18 Monaten Untersuchungszeitraum wurden zwischen der Lecanemab- und der Placebo-Gruppe 0,45 Punkte Unterschied auf der CDR-Skala beobachtet. Davon merkt der Patient wahrscheinlich kaum etwas. Allerdings muss man da auch einen längeren Zeitraum bedenken. Wenn der Effekt anhält, würde die Differenz über die Zeit noch weiter auseinandergehen und relevanter werden."

Insgesamt sei die Studie sehr ermutigend, die häufigste beschriebene Nebenwirkung, eine unmittelbare Reaktion auf die Infusion und eine Überreaktion gegen die Antikörper, sei mehrheitlich mild und moderat. Doch es komme eben auch zu Ödemen oder Blutungen im Gehirn, die man in bildgebenden Verfahren sehen kann: "Bisher liegt deren Häufigkeit im Vergleich mit Studien zu anderen Substanzen eher am Unterrand. Die große Frage für die Zulassungsbehörden wird nun sein, ob der Effekt so überzeugend ist, dass man diese unvermeidbaren Nebenwirkungen in Kauf nimmt", sagt Teipel. Die Todesrate in der jetzt abgeschlossenen Studie liege bei 0,7 Prozent, wobei keiner der Todesfälle als mit der Substanz in Verbindung stehend eingeschätzt wurde.

Teipel betont: "Ich halte es für sehr wichtig, diese Daten mit den Patientinnen und Patienten zu besprechen. Wir müssen übersetzen, was 0,45 Punkte auf der CDR-Skala ganz konkret bedeuten und was sich durch die Therapie im Leben verändert. Immerhin ist die Behandlung auch mit einem hohen Aufwand verbunden, was für die Betroffenen oft belastend ist." Wie es mit einer Zulassung in Europa überhaupt aussehe, könne man aber noch nicht sagen, vor allem auch, weil die Studienautoren selbst sagen, dass es noch länger andauernde Studien brauche, um die Sicherheit des Wirkstoffs zu beurteilen.

Ähnliche Wirkweise aller Substanzen

Neben Lecanemab gibt es aktuell noch zwei weitere Antikörper, das eingangs erwähnte Aducanumab und Gantenerumab. Einordnend erklärt Teipel, dass alle drei Antikörper auf ähnliche Wirkmechanismen abzielten: "Das sieht man auch an den Nebenwirkungen. Sie sind von der Art her praktisch identisch, alle drei verursachen Ödeme und Mikroblutungen mit unterschiedlicher Häufigkeit. Bei Aducanumab sind sie etwas häufiger, bei Lecanemab im Vergleich etwas seltener. Das hängt auch damit zusammen, dass die Dosierungen sich unterscheiden."

Von den drei Antikörpern zeigt die nun vorliegende Studie zu Lecanemab die klarste Evidenz für eine Wirksamkeit. Bei Gantenerumab etwa habe sich in zwei klinischen Studien keine Wirkung auf den klinischen Endpunkt gezeigt. Die Reduktion des Amyloids war deutlich weniger als erwartet. Bei Aducanumab wurde nur in einer von zwei Studien ein Effekt gesehen.

Trotzdem sehen auch Christian Haass und Johannes Levin vom Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen eine Zeitenwende in der Alzheimerbehandlung: "Die zentrale Bedeutung von Anti-Amyloid-Therapien für Betroffene der Alzheimer-Krankheit ergibt sich weniger aus dem Datensatz zu Lecanemab selbst. Viel relevanter ist die Stimmigkeit des Gesamtbilds mit den Daten zu Aducanumab und Donanemab." Denn alle drei Antikörpertherapien entfernen effektiv Amyloid-Ablagerungen aus dem Gehirn und scheinen einen günstigen Einfluss auf weitere wichtige Komponenten der Alzheimer-Pathologie zu haben.

"Patientennutzen ist gegeben"

Haass und Levin betonen, dass der Patientennutzen gegeben sei: "Allerdings muss man ihn auch realistisch einschätzen. 30 Prozent Progressionsverlangsamung bedeutet nicht, dass die Krankheit gestoppt oder geheilt wird." Trotzdem sei diese erste Therapieoption sehr wichtig und es ist vorstellbar, dass die Effekte bei längerer Behandlungsdauer als die 18 Monate für die Studie besser sein können.

"Neben dem individuellen geht es auch um einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen. Die prinzipielle Behandelbarkeit der Alzheimer-Krankheit wird helfen, das soziale Stigma von Demenz abzubauen." Die Zielgruppe der Betroffenen seien dabei ganz klar, wie auch in der Studie gezeigt, Personen mit geringgradigen Symptomen bei manifester Alzheimer-Demenz. Bei Menschen mit fortgeschrittener Erkrankung könne der Antikörper nichts mehr bewirken. (Pia Kruckenhauser, 11.12.2022)