Ein Auftritt im beliebten Lokal am Donaukanal endete im Sommer für einen 24-Jährigen mit einem verschobenen Nasenbeinbruch.

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Wien – Wie unzuverlässig Zeugenaussagen sind, kann man in Akira Kurosawas filmischem Meisterwerk "Rashomon" betrachten – im Englischen existiert sogar der Begriff "Rashomon-Effekt", um das Phänomen zu beschreiben. In einem Teilaspekt des Schöffenverfahrens gegen den 16-jährigen Mustapha (Name geändert, Anm.) unter Vorsitz von Daniel Schmitzberger kann man diesen Effekt live miterleben.

Der vor vier Jahren aus Gambia gekommene Angeklagte, der derzeit seine vierwöchige Strafhaft wegen gefährlicher Drohung verbüßt, soll laut Staatsanwältin Sonja Herbst unter anderem im Sommer in Wien vor dem Lokal Flex am Donaukanal einem 24-jährigen Österreicher durch zwei Faustschläge einen verschobenen Nasenbeinbruch zugefügt haben.

Während der Teenager einen ebenso angeklagten Raub, Ladendiebstähle und die Verwendung einer gefundenen Bankomatkarte gesteht, bekennt er sich zu diesem Vorwurf der Körperverletzung nicht schuldig. Denn: "Das habe ich nicht ohne Grund gemacht", bescheidet er dem Senat. "Es wurde jemand aus dem Flex geschmissen und hat sich furchtbar aufgeregt", erinnert sich der einwandfrei Deutsch sprechende Angeklagte. "Ich bin hingegangen und habe gefragt, ob alles okay ist, der hat gesagt 'Verpiss dich!' und mich beleidigt."

Wortgefecht und Schläge

Es sei zu einem Wortgefecht gekommen, dann habe ihm der 24-Jährige einen Faustschlag verpasst, bei dem Mustapha sogar ein Zahnstück abgesplittert sei. "Das kann man jetzt noch sehen", merkt Verteidiger Wolfgang Haas an. "Dann habe ich zurückgehaut und bin davongelaufen", schildert der 16-Jährige weiter. "Sie sind ja dann kurz darauf von der Polizei aufgegriffen worden – warum haben Sie dort nichts davon erzählt?", ist Vorsitzender Schmitzberger skeptisch. "Ich wollte mit der Polizei nicht reden", antwortet der Angeklagte. Und liefert eine weitere überraschende Begründung: "Ich dachte nicht, dass das vor Gericht kommt."

Kam es offensichtlich doch, also wird der 24-jährige Verletzte, der 2.000 Euro Schmerzensgeld will, einvernommen. "Ich hatte einen Auftritt im Flex", sagt der Angestellte, er war als DJ tätig. "Danach bin ich mit Freunden ins Flex-Café gegangen, dort gab es Unstimmigkeiten mit dem Barkeeper", beginnt er seine Schilderung. Das Sicherheitspersonal komplementierte ihn und seine beiden Begleiter hinaus. Vor dem Lokal hätte sich der Angeklagte in einer Gruppe genähert und gefragt, was los sei. "Ich habe gesagt, sie sollen weggehen", erinnert sich der nach eigenen Angaben nach einigen Bieren und Wodka-Shots "mittel betrunkene" Zeuge.

Pause zwischen Fausthieben

Daraufhin habe ihm Mustapha unvermittelt einen Schlag auf die Nase versetzt. Als ihn seine Freunde darauf aufmerksam machten, dass er blute, habe er sich dem körperlich zumindest optisch unterlegenen Teenager nochmals genähert und ihn zur Rede gestellt, worauf er einen zweiten Schlag kassierte, behauptet der Zeuge.

"Um was ist es denn zuvor im Lokal gegangen?", interessiert den Vorsitzenden. Offenbar gab es Differenzen über die Zahl von mit kohlesäureversetztem Wasser gemischten Weißweinen vulgo Spritzern. Konkret, ob der 24-Jährige mit den Getränkegutscheinen für seinen Auftritt vier oder fünf der Getränke bestellt hat. "Es war schon eine hitzige Diskussion mit dem Barkeeper", gesteht der Zeuge zu. "Der Angeklagte sagt auch, Sie hätten ihm den ersten Schlag versetzt", hält Schmitzberger vor. "Auf keinen Fall. Das ist eine Lüge", empört sich der 24-Jährige.

Drei Zeugen, drei Versionen

Seine beiden gleichaltrigen Begleiter, die als die nächsten Zeugen einvernommen werden, liefern wiederum zwei andere Versionen. "Der Herr ist gekommen und hat gefragt, was passiert ist. Wir haben gesagt, das geht ihn nichts an, dann ist es ein bisschen eskaliert", erinnert sich der erste Freund. "Wie ist es eskaliert?", interessiert den Vorsitzenden naturgemäß. "Es sind Beleidigungen geflogen, und dann ist es eskaliert", lautet die Antwort – konkret sollen beide Kontrahenten einander gestoßen haben. Wie das Nasenbein seines Bekannten deformiert wurde, weiß dieser Zeuge nicht. "Es ging alles zu schnell." Sein Freund habe geblutet, danach sei das Trio gegangen.

Der zweite Bekannte gibt an, der 24-Jährige habe seinen Unmut über den Lokalverweis "lautstark kundgetan", als der Angeklagte sich erkundigte, was los sei. Dieser Zeuge schließt aus, dass auch der Verletzte zugeschlagen habe, ist sich aber sicher, nur einen Schlag durch den 16-Jährigen gesehen zu haben. "Gestoßen wurde vorher auch nicht?", fragt der Vorsitzende nach. "Nein", lautet die knappe Antwort.

Verteidiger sieht maximal Notwehrüberschreitung

Für Verteidiger Haas sind die unterschiedlichen Darstellungen Grund genug, in seinen Schlussworten an den Senat zu appellieren, dem Angeklagten in diesem Fall Notwehr oder maximal eine Notwehrüberschreitung zuzugestehen. "Der andere ist größer und kräftiger, ich kann mir vorstellen, dass er sich gefürchtet hat", argumentiert er zugunsten seines Mandanten, der laut Jugenderhebungen nicht mehr bei seinem gewalttätigen Vater lebt, sondern in einer tagsüber geschlossenen Einrichtung der Stadt Wien übernachtet.

Das Gericht sieht das nicht so und verurteilt Mustapha anklagekonform auch wegen schwerer Körperverletzung. "Die Zeugen waren sehr glaubwürdig", begründet Schmitzberger das Urteil. Und wiederholt: "Wenn man von der Polizei aufgehalten wird, die einen wegen einer Körperverletzung befragt, bei der man zuerst eine Zahnabsplitterung erlitten hat, dann sagt man das auch", glaubt er dem Angeklagten nicht.

Was sich damals nun genau vor dem Flex ereignet hat, spielt angesichts des Raubes und der anderen Delikte, zu denen der 16-Jährige geständig gewesen ist, aber ohnehin keine Rolle. Bei einer Strafandrohung von bis zu fünf Jahren Gefängnis wird der Teenager zu 18 Monaten Haft, sechs davon unbedingt, verurteilt. Da sowohl Mustapha als auch Staatsanwältin Herbst diese Entscheidung akzeptieren, ist das Urteil rechtskräftig. (Michael Möseneder, 1.12.2022)