Der Interviewtermin mit David McAllister wird mehrmals vor- und zurückgeschoben. Der Leiter des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten im EU-Parlament hat wenig überraschend einen dichten Terminkalender in diesem außenpolitisch turbulenten Jahr für die Europäische Union. Erst vor wenigen Tagen hat das Brüsseler Parlament Russland in einer neuen Resolution als Terrorstaat bezeichnet. Nichts anderes als Terror sei es nun einmal, was die Führung im Kreml in der Ukraine betreibe, wird CDU-Politiker McAllister später explizit. Bis vor wenigen Minuten sei er "gedanklich noch bei Bosnien-Herzegowina gewesen", entschuldigt er sich, nun aber gilt seine Aufmerksamkeit wieder voll und ganz der Ukraine, ihrer territorialen Souveränität und den Waffen, die Kiew dafür braucht.

STANDARD: Herr McAllister, die EU hat in neun Monaten Krieg beispiellose Sanktionen erlassen, die die russische Wirtschaft teils hart trafen. Sie hatten – wie bei Sanktionen üblich – aber auch einen Effekt auf die sanktionierenden Länder. Was sagen Sie Kritikern, die behaupten, Sanktionen seien nur dann wirklich effektiv, wenn sie zu einer Verhaltensänderung auf der anderen Seite – in dem Fall bei Wladimir Putin – führen?

McAllister: Dieser Krieg ist ja nicht nur ein Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine, sondern ein brutaler Angriff auf die gesamte europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur. Das Prinzip der staatlichen Souveränität und der territorialen Integrität, das Gewaltverbot, die Nichtintervention in interne Angelegenheiten eines souveränen Staates, das nationale Selbstbestimmungsrecht: Diese tragenden Prinzipien, die wir gemeinsam aufgebaut haben, sind durch den Kreml unwiderruflich zerstört worden. Wie ein US-Beobachter einmal gesagt hat: "Putin hat nicht nur einen unzulässigen Spielzug gemacht, sondern das ganze Schachbrett über den Haufen geworfen." Hier stehen wir, und deshalb ist die Lage so ernst. Das ist die größte sicherheitspolitische Herausforderung seit 1945. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt.

Und wie hat die Europäische Union darauf reagiert? Zum einen, indem wir die Ukraine in diesem absolut gerechtfertigten Abwehrkampf massiv unterstützen – wirtschaftlich, finanziell, humanitär und durch die Mitgliedsstaaten auch militärisch. Und auf der anderen Seite durch maximalen Druck auf die Russische Föderation, ohne zugleich Kriegspartei zu werden. Die Sanktionen sind unsere Reaktion auf diesen illegalen und unprovozierten Angriffskrieg. Wir haben das alles getan in enger Abstimmung mit unseren internationalen Partnern, den USA, dem Vereinigten Königreich, Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland und anderen. Diese Sanktionen halte ich für absolut gerechtfertigt. Nun müssen sie vollständig umgesetzt werden. Gleichzeitig wird die bloße Sanktionierung der Russischen Föderation langfristig nicht ausreichen, um das europäische Werte und Gesellschaftsmodell von Freiheit und Demokratie nachhaltig zu verteidigen.

STANDARD: Aber die Idee war prinzipiell, damit eine Verhaltensänderung zu bewirken. Diese gibt es noch nicht. Ist es mittlerweile nur mehr eine Bestrafung des Kreml, oder sehen Sie noch die Chance, die sanktionierte Partei dazu zu zwingen, diesen Krieg zu beenden?

McAllister: Der Unterschied zwischen einem Raketengeschoß und Sanktionen ist, dass die Wirkung der Rakete binnen des Bruchteils einer Sekunde eintritt. Sanktionen wirken nicht sofort, nicht unmittelbar. Sanktionen wirken über einen längeren Zeitraum. Da braucht es Geduld und Ausdauer. Und genau darauf setzt ja der Kreml mit seiner Propaganda, dass wir im Westen diese Geduld und diese Ausdauer nicht aufbringen.

Die historisch scharfen Sanktionen zeigen aber bereits ihre Wirkung. Es wird erwartet, dass das russische Bruttoinlandsprodukt dieses Jahr um rund 5,5 Prozent zurückgehen wird. Die Inflationsrate in Russland steigt je nach Angaben zwischen 15 und 20 Prozent. Der russische Finanzsektor kämpft ums Überleben. Fast 1.000 Unternehmen haben das Land verlassen. Die Automobilproduktion ist gegenüber dem Vorjahr um ein Viertel geschrumpft, und so könnte ich viele weitere Beispiele nennen. Wir wollen den industriell-militärischen Komplex in der Russischen Föderation hart treffen, sodass eine Verhaltensänderung eintritt und die Russen sich komplett mit Personal und Gerät vom anerkannten Gebiet der Ukraine zurückziehen.

David McAllister glaubt, dass Putin seine gerechte Strafe erhalten wird.
Foto: EPA/STEPHANIE LECOCQ

STANDARD: Bisher wurden alle Sanktionen einstimmig beschlossen. Es gibt aber eine Fraktion aus den baltischen und osteuropäischen Staaten, die deutlich offensiver auftreten in ihrer Rhetorik und Politik. Wie will man da die Einigkeit in der EU wahren?

McAllister: Die EU hat größte Einigkeit bei den bislang acht Sanktionspaketen gezeigt. Unterschiedliche Interessen auszubalancieren macht die Vorbereitung jedes weiteren Sanktionspakets anspruchsvoll. Gleichzeitig ist die Nato wieder voll da. 2019 noch bezeichnete sie der französische Präsident in einem Interview als "hirntot". Und jetzt ist die Nato in ihrer ganzen Kraft und Dynamik zurück. Auch das hat der Diktator im Kreml erreicht.

Wir erleben eine sicherheitspolitische Zeitenwende. Schweden und Finnland werden der Nato beitreten, Dänemark schließt sich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU an, und Deutschland hat zumindest angekündigt, tatsächlich substanziell mehr für Verteidigung auszugeben. Bislang folgten den großen Worten von Bundeskanzler Scholz aber leider noch keine Taten. Dass die osteuropäischen Länder mit unmittelbaren Grenzen an Belarus das teils mit einer anderen Perspektive sehen, ist nachvollziehbar. Wir stehen hier aber alle zusammen, sowohl als Nato-Bündnispartner als auch als EU-Partner. Meinungsverschiedenheiten zu Detailfragen würde ich nicht überbewerten. Wer das in den Mittelpunkt stellt, muss sich fragen, ob er am Ende nicht der Propaganda des Kreml auf den Leim geht.

STANDARD: Mit großer Mehrheit beschloss das EU-Parlament eine Resolution, in der Russland als ein "dem Terrorismus Vorschub leistender Staat" bezeichnet wird. Zudem fordert das EP, eine Terrorliste für Staaten wie Russland zu schaffen, um diese strenger zu bestrafen. Was erhofft man sich?

McAllister: Das Europäische Parlament ist der Auffassung, dass Russland ein staatlicher Sponsor des Terrorismus ist. Und kaum ein Wort beschreibt das russische Vorgehen in der Ukraine präziser als Terrorismus. Was, wenn nicht Terrorismus, ist es, wenn hunderte Zivilisten in Irpin, Butscha oder Kramatorsk gefoltert, vergewaltigt, ermordet und in Massengräber geworfen wurden. Wenn Kinder als Waffen des Krieges instrumentalisiert, von ihren Eltern getrennt, verletzt oder deportiert werden? Mit dieser Resolution tragen wir als Europäisches Parlament zunächst den Gräueltaten der russischen Streitkräfte in der Ukraine Rechnung. Und wir sind ja auch nicht das erste Parlament, das eine solche Resolution verabschiedet hat.

Letztlich wollen wir damit den Weg bereiten, dass Putin und seine Schergen international weiter isoliert werden und vor einem Tribunal zur Rechenschaft gezogen werden. Der Platz von Putin muss am Ende vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag sein. Er wird eines Tages für diese Gräueltaten bitter Rechenschaft ablegen müssen und seine gerechte Strafe bekommen. Darüber hinaus hat das EP den Rat aufgefordert, die Wagner-Gruppe und das 141. motorisierte Spezialregiment, bestehend aus über 10.000 tschetschenischen Soldaten, die Russland in der Ukraine aktiv unterstützen, auf die EU-Terrorliste zu setzen.

STANDARD: Waren Sie überrascht, als Sie sahen welche Parlamentarier gegen die Resolution stimmten oder sich enthielten?

McAllister: Wenn man die Debatten im Europäischen Parlament zur Russischen Föderation verfolgt, gibt es nicht selten eine gewisse ähnliche Argumentation des Relativierens und des Verständnisses für den Kreml von ganz rechts wie von ganz links.

Deutsche Panzerhaubitze 2000 auf dem Weg in die Ukraine.
Foto: APA/AFP/GREGOR FISCHER

STANDARD: Mit jeder zusätzlichen Waffenlieferung gab es Sorge vor einer weiteren Eskalation. Moskau eskaliert diesen Krieg aber ohnedies laufend. Wovor sorgt man sich denn noch, ist es "nur" mehr die Atombombe, die im Repertoire fehlt?

McAllister: Wir unterstützen die Ukraine nach Kräften, ohne gleichzeitig Kriegspartei zu werden. Das ist unsere rote Linie, und die wird auch konsequent eingehalten. Ziel der Waffenlieferungen ist, dass sich die Ukraine wirksam gegen jede weitere russische Aggression verteidigen kann und die vollständige Kontrolle über ihr gesamtes international anerkanntes Hoheitsgebiet wiedererlangt. Zum tatsächlichen Bedarf sind die Nato-Bündnispartner in enger Abstimmung mit der Regierung in Kiew. Gleichzeitig müssen wir aber unsere eigenen militärischen Fähigkeiten aufrechterhalten, um unsere Bündnisverpflichtungen einzuhalten. Und weil ja auch nicht endlos und grenzenlos Munition zur Verfügung steht, muss man eben genau schauen, was leistbar ist und was nicht.

STANDARD: Aber es geht doch darum, dass diskutiert wird, "dieser Panzertyp ja, dieser Panzertyp nein, dieser Abwehrraketentyp ja, dieser nein", während Putin zivile Wohnhäuser bombardiert und die Menschen offensichtlich erfrieren lassen will.

McAllister: Bei den Waffenlieferungen wird erstens in Erwägung gezogen, was die Ukraine tatsächlich braucht. Zweitens gilt es zu beachten, wie schnell das Material eingesetzt werden kann, wie lange es dauert, das Personal an den neuen Waffen auszubilden. Aktuell brauchen die Ukrainer vor allem Munition, schwere Artillerie, Präzisionswaffen und Luftabwehr. Russland attackiert die Ukraine weiter aus der Luft, kontrolliert aber nicht den Luftraum über der Ukraine.

Trotz dieser intensiven Raketenangriffe ist es unwahrscheinlich, dass Russland die Lufthoheit im Krieg in den kommenden Monaten gewinnen kann. Grund dafür sind strukturelle Probleme in der russischen Luftwaffe, aber auch die gute Flugabwehr der Ukraine. Manche Nato-Länder liefern viel. Andere liefern das, was sie meinen, liefern zu können. Das sind jeweils nationale Entscheidungen, die jede einzelne Regierung zu verantworten hat. Wenn wir wollen, dass die Ukraine diesen Krieg erfolgreich beendet, dann müssen wir die Ukraine weiterhin mit genau dem ausstatten, was sie braucht. Dabei begrüße ich die aktuelle Ausbildung ukrainischer Soldaten im Rahmen der EU-Militärmission.

Wladimir Putin lässt aktuell neben zivilen Wohnhäusern auch Infrastruktur in der Ukraine zerbomben, damit den Menschen die Heizung im bitterkalten ukrainischen Winter ausfällt.
Foto: IMAGO/ITAR-TASS

STANDARD: Können Sie "erfolgreich beenden" definieren? In der Geschichte hat es oft die militärische Niederlage einer Kriegspartei gebraucht, um Leute an den Verhandlungstisch zu bringen.

McAllister: Kriege gehen oft durch Waffenstillstandsverhandlungen zu Ende. Diese werden dann geführt, wenn beide Seiten zur Erkenntnis kommen, dass sie mit militärischen Mitteln ihre Ziele nicht mehr durchsetzen können. Ob und wann die Bedingungen für Waffenstillstandsverhandlungen gegeben sind, das entscheidet die ukrainische Regierung. Wir sollten uns in dieser Frage zurückhalten. Die Ukraine kann zu Recht einfordern, was jeder souveräne Staat der Welt erwarten sollte, nämlich dass die staatliche Integrität und Souveränität geachtet wird.

STANDARD: Wir reden also von den Grenzen vor 2014?

McAllister: Ja. Die Ukraine hat international anerkannte Grenzen aus dem Jahr 2014. Seit 2014 werden diese von der Russischen Föderation nicht mehr respektiert, sondern verletzt. Und die Haltung der ukrainischen Regierung ist klar: Das gesamte russische Militärpersonal und -gerät hat sich vom Territorium der Ukraine zurückzuziehen.

STANDARD: Kann der European Sky Shield ein zunächst kleiner, aber letztlich großer Schritt hin zu einer stärkeren europäischen Sicherheitsarchitektur sein?

McAllister: Mein Ziel ist die vollständige Europäische Verteidigungsunion. Mit dem Strategischen Kompass gibt es dafür einen konkreten Fahrplan, der jetzt von den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden sollte. Alle 27 Staats- und Regierungschefs – auch der österreichische Bundeskanzler – haben in Versailles diesen Kompass verabschiedet. Das Europäische Parlament erwartet, dass sich alle 27 Mitgliedsstaaten diesem Strategischen Kompass verschreiben und ihn umsetzen.

Zur Europäischen Verteidigungsunion gehören ganz viele unterschiedliche Bausteine. Ein Baustein ist selbstverständlich eine wirkungsvolle, effektive, funktionierende europäische Luftabwehr. Vor diesem Hintergrund begrüße ich die am 13. Oktober angekündigte European Sky Shield Initiative. Durch das gemeinsame Beschaffen von Luftabwehrgeräten und Raketen wird diese Initiative zu einem einheitlichen europäischen Luftabwehrsystem beitragen. Gleichzeitig gibt das Projekt einen neue Perspektive für die Verteidigungskooperation mit dem Vereinigten Königreich.

STANDARD: Welchen Beitrag kann Österreich aus Ihrer Sicht zu einem sichereren Europa leisten?

McAllister: Natürlich leistet Österreich einen wichtigen Beitrag. Grundsätzlich gilt es zu respektieren, dass es auch EU-Staaten gibt, die nicht Nato-Mitglieder sind.

STANDARD: Auch wenn diese bald nur noch vier Staaten mit rund 15 Millionen von 450 Millionen EU-Bürgern ausmachen?

McAllister: Ja. Die EU und die Nato sind zwei unterschiedliche Organisationen, auch wenn sie eng zusammenarbeiten. Österreichs militärische Neutralität steht nicht im Widerspruch zur Europäischen Solidarität. Österreich zeigt sich absolut solidarisch innerhalb der EU-27 und hat sich politisch eben nicht neutral positioniert, sondern ist als EU-Mitglied ein Wertepartner, bekennt sich fest zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Trotz der besonderen wirtschaftlichen Herausforderungen hat Österreich alle Sanktionen gegen die Ukraine mitgetragen. Bei der Finanzierung von Waffenlieferungen an die Ukraine durch die European Peace Facility hat sich Österreich konstruktiv enthalten. Darüber hinaus erlaubt die Regierung in Wien den Transport von Waffenlieferungen durch österreichisches Staatsgebiet.

Es ist nicht davon auszugehen, dass es in absehbarer Zeit einen fundamentalen Kurswechsel in Österreich geben wird mit Blick auf die Nato-Mitgliedschaft – anders als in Schweden und Finnland. Gleichwohl werden wir auch in Brüssel mit Interesse beobachten, wie sich die gesellschaftliche Debatte in Österreich darüber entwickelt, welchen Beitrag das Land zu einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur leisten kann. (Fabian Sommavilla aus Brüssel, 7.12.2022)