So geeint, so eng zusammengerückt wie noch nie. Spricht man Europas Spitzenpolitikerinnen und Topdiplomaten auf den außenpolitischen Zusammenhalt in der EU an, so hört man seit Beginn der russischen Invasion vor einem Dreivierteljahr vor allem das.

Trotz Viktor Orbán und seiner Machtspielchen sowie der Konzessionen, die er EU-Partnern bei den bisher acht Sanktionspaketen für sein Nichtveto abrang. Und letzten Endes waren neben Ungarn sogar die letzten vier verbleibenden militärisch neutralen Staaten in der EU – Malta, Irland, Zypern und nicht zuletzt Österreich – immer dabei. Sie waren moralisch-politisch nie neutral und enthielten sich dort konstruktiv, wo es galt, Militärhilfe für die Ukraine nicht zu blockieren.

Gefühlter Kriegszustand

Ein in seiner Treue zur Union moralisch flexibler Orbán wird die Union auch bei den kommenden Sanktions- und Hilfspaketen vor Prüfungen stellen. Eine weit größere könnte aber auch der Zusammenhalt unter den restlichen 26 Staaten sein, gibt es dort mit den baltischen und einigen osteuropäischen Staaten, die direkte Grenzen zu der Ukraine, Belarus und nicht zuletzt Russland haben, eine Gruppe an Staaten, die "mental gefühlt im Kriegszustand sind", wie es manche in Diplomatenkreisen formulieren.

Sie stehen im Kontrast zu den Vorsichtigen in Europa, haben seit Februar aber die "moralische Superiorität", sagt EU-Budgetkommissar Johannes Hahn: "Sie haben stets vor dem Denkunmöglichen gewarnt, man hat nicht auf sie gehört, und dann ist das Denkunmögliche eingetreten." Verständlicherweise würden diese nun verlangen, dass man zumindest jetzt auf sie hört, ihre Bedenken ernst nimmt, endlich offensiver gegen Russland auftritt.

Falken ohne Vorsicht

Mit ihren falkenartigen Auftritten – Estlands Außenminister Urmas Reinsalu forderte erst vor Tagen wieder "ein Schwert und einen Schild" für die Ukraine – stoßen sie dabei immer öfter auf Unmut bei zögerlichen Mitgliedsstaaten. Nicht jede Wortspende zum Krieg müsse eine Churchill-Rede sein, formuliert es ein EU-Beamter zynisch – und meint damit auch die ukrainische Seite.

In Cherson wurde nach dessen Befreiung nicht nur die ukrainische, sondern auch die EU-Flagge gehisst.
Foto: Reuters/Murad Sezer

In Cherson wurde nach dessen Befreiung nicht nur die ukrainische, sondern auch die EU-Flagge gehisst. Diese schafft es freilich erst dank ihrer sensationellen Öffentlichkeitsarbeit, das überlebensnotwendige Interesse des Westens am Krieg hochzuhalten, schieße gelegentlich aber auch über das Ziel hinaus und stoße Partner damit vor den Kopf – auch jenseits des Atlantiks.

Biden als Europafreund

Dennoch haben die USA nicht nur ein rein strategisches Interesse an der Unterstützung der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf – um verhältnismäßig so wenig Geld konnten die USA einem potenziellen Kontrahenten schon lange nicht mehr solch erheblichen Schaden zufügen, argumentieren Strategen.

Mit Joe Biden hat die Ukraine auch einen echten Europafreund, den vielleicht "letzten echten Transatlantiker" im Weißen Haus sitzen, glauben Hahn und EU-Vizeparlamentspräsident Othmar Karas. Viele in Brüssel befürchten zudem, dass sich nach Biden die US-Außenpolitik wieder stärker in Richtung Asien orientieren dürfte, wie es unter Barack Obama bereits begann und unter Donald Trump nochmals verstärkt wurde.

Radikale Strategiewechsel

War Trump ein erster sicherheitspolitischer Weckruf, der in Europa nicht überall gehört wurde, so war das Schrillen der Sirenen ab 24. Februar 2022 nicht mehr zu überhören. Vielerorts gab es radikale Strategiewechsel, mancherorts versucht man, weiter mitzuschwimmen. Doch sogar Österreich gab früh bekannt, sich an einem von Nato-Staaten geführten Luftraumschutz beteiligen zu wollen.

Die Ukraine wird viel Geld brauchen, und es kann nur mit internationaler Zusammenarbeit gelingen, diesen Kraftakt zu stemmen, ist Budgetkommissar Johannes Hahn überzeugt.
Foto: EPA/OLIVIER HOSLET

Im europäischen Osten und Norden – dort, wo es eine historische Aversion gegen Russland und eine sicherheitspolitische Nähe zur Nato und den USA gibt – war man ohnedies schon länger bereit, mehr für die Verteidigung des eigenen Staats- und Unionsgebietes auszugeben. Die rechtlich starken Beistandsklauseln in den Nato- und den EU-Verträgen, die vielen Ex-Sowjet- und Warschauer-Pakt-Staaten einen Zufluchtsort vor Putins expansionistischem Russland boten, machen eine Ausdehnung der russischen Angriffe auf Allianzgebiete weiterhin jedoch sehr unwahrscheinlich. Deshalb gilt es, parallel zur Stärkung der eigenen Wehrfähigkeit zunächst vor allem die Ukraine zu unterstützen.

Überleben der Ukraine

Der zivile, finanzielle und militärische Support wird in den Wintermonaten zwangsläufig eine neue Qualität erreichen. Nachdem viele europäische Staaten bisher – etwas überspitzt formuliert – ihr altes "Glumpert" aus Militärbeständen leergeräumt haben, gilt es schon bald, neuwertige Waffen, Munition und Luftabwehrsysteme zu liefern, betonen Kenner der militärischen Lage. Im zivilen Bereich wird die Ukraine bis zu drei Milliarden Euro monatlich brauchen, um den Staatsbetrieb aufrechtzuerhalten – um Strom in Krankenhäusern bereitzustellen, Gehälter zu zahlen oder die von Putin zerbombte Infrastruktur zu reparieren. Aktuell prüft die EU, inwiefern eingefrorene Oligarchen- und russische Staatsmilliarden dafür verwendet werden könnten.

An ein baldiges Ende des Krieges glaubt in Brüssel jedenfalls kaum jemand. An eine schnelle, gar vollständige Genesung der Beziehungen mit Moskau mittelfristig auch nicht. Ob Putin etwaige Friedensverhandlungen führt, darüber herrscht Uneinigkeit, wenngleich er fest wie eh und je im Sattel zu sitzen scheint. Aber, so Hahn, "in Versailles sind am Ende auch andere gesessen". Bis dahin gelte es, die EU-Einigkeit zu wahren, damit die Ukraine überlebt. (Fabian Sommavilla aus Brüssel, 2.12.2022)