Die Proteste in China sind kein Novum, sagt Alexander Görlach, Senior Fellow am New Yorker Carnegie Council for Ethics in International Affairs, im Gastkommentar. Nach Zählung von Nichtregierungsorganisationen gab es seit Mai 735 Demonstrationen, aber nur 50 gegen Corona-Maßnahmen.

Ein weißes Blatt Papier gilt als Zeichen des Protests gegen die chinesische Führung.
Foto: EPA / Jerome Favre

Zum ersten Mal seit den Demokratieprotesten im Jahr 1989 formiert sich in der Volksrepublik China massiver Widerstand gegen die Politik der Kommunistischen Partei und Machthaber Xi Jinping persönlich. Wie im Sommer vor 33 Jahren spielen die Universitäten dabei eine Rolle: "Nieder mit der Partei! Nieder mit Xi Jinping", skandieren die Studierenden. Auch vor den Universitätstoren rufen die Demonstrierenden "Keine CPR-Tests! Freiheit!" und "Gib mir Freiheit oder bring mir den Tod!".

Widerstand? In China?

Die Nomenklatura hat alles daran gesetzt, dass es nicht wieder zu Erhebungen kommt: Die Straßen, auf denen bislang die Demonstrationen stattfanden, wurden abgesperrt, die Handys vorbeilaufender Passantinnen und Passanten auf Videos und Fotos der Proteste untersucht. Einige der Demonstrierenden konnten per Gesichtserkennung ausfindig gemacht werden. Die Polizei suchte sie zu Hause auf. Journalisten wurden an der Arbeit gehindert, und Universitäten in Peking und der Provinz Guangdong haben geschlossen und ihren Studierenden einen Sonderurlaub gegeben, um sie so von weiteren Nachtwachen abzuhalten. Für die Menschen in der freien Welt mögen die spektakulären Bilder aus China ein Novum darstellen.

Das sind die Proteste aber nicht: Nichtregierungsorganisationen haben seit 18. Mai dieses Jahres bis zu 735 Demonstrationen gezählt, allerdings waren davon nur etwa rund 50 gegen die Corona-Maßnahmen gerichtet. Rund 230 Proteste gab es, als die Immobilienblase platzte und Abertausenden drohte der Verlust ihrer Ersparnisse, die sie in Wohnungen gesteckt hatten. Ein weiterer Grund für Proteste war eine Bankenkrise, im Zuge derer Menschen ihre Ersparnisse nicht mehr abheben konnten. Und: Aufgrund der Covid-Pandemie ist die Wirtschaft am Boden, weswegen die Jugendarbeitslosigkeit mit rund 20 Prozent auf dem höchsten Stand seit Menschengedenken ist. Das Magazin The Economist hat die verschiedenen Daten aus dem Land, in dem es eigentlich überhaupt keinen politischen Widerstand geben sollte, ginge es nach Xi, zusammengetragen und aufbereitet.

Millionen im Lockdown

Dieser hat sich gerade bei einem pompös inszenierten 20. Parteikongress Mitte Oktober zum dritten Mal zum Präsidenten ausrufen lassen. Nach innen und außen sollte das Stabilität und Machtfülle ausstrahlen. Nun rufen die Demonstrierenden "China braucht keinen Kaiser". Die jüngsten Proteste zielen ausschließlich auf das Ende des Lockdowns, mit dem die Menschen allerdings die Forderung nach Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit verknüpfen. Derzeit müssen noch rund 400 Millionen Menschen in der Volksrepublik in einem Lockdown ausharren.

Xi hat sein politisches Geschick mit der Bewältigung der Corona-Krise verknüpft. Das bedeutet in einer Diktatur, in der es keine Parteien und keine Wahlen gibt und in der ein Machtwechsel nur durch natürlichen Tod oder Meuchelei des Führers herbeigeführt werden kann, für demokratische Ohren erst einmal nichts. Allerdings haben die Chinesen, historisch betrachtet, Erfahrung mit dem Sturz absoluter Herrscher: Fünf der 17 Dynastien des alten China wurden gestürzt, weil Wasserknappheit zu einer Hungersnot führte. Als diesen Sommer in China Seen und Flüsse austrockneten, herrschte auf einmal so etwas wie Panik in Peking.

"Was Deng und Xi eint, ist ihre Ablehnung der Demokratie."

Xi, der auf seinen Vorvorvorgänger Deng Xiaoping wenig gibt, wird sich nun an ihn halten: Denn Deng, der im Westen gerne als Reformer Chinas gefeiert wird, hat den Befehl zur Erschießung der Studierenden auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni 1989 gegeben. Was Deng und Xi eint, ist ihre Ablehnung der Demokratie. Gewiss, Deng war ein Reformer, ein wirtschaftlicher allerdings. Und von ihm stammt letztlich die Wette, auf die die KP seit ihm gesetzt hat: Wir verschaffen der Bevölkerung steigenden Wohlstand, die Bevölkerung zweifelt im Gegenzug die Alleinherrschaft der Partei nicht an. Xi hat diese Abmachung aufgegeben. Er setzt auf das Primat der Ideologie und seine Vorherrschaft.

Der Unterschied zu 1989

Die nächsten Tage werden entscheidend sein: Bislang gingen Menschen in allen Landesteilen auf die Straße. Das ist ein Unterschied zu 1989, wo sich die Massenproteste in Peking abspielten, und somit ein Vorteil für die Bewegung. Ein Nachteil ist, dass die Proteste, gemessen am Anteil von 95 Millionen Parteimitgliedern an den insgesamt 1,4 Milliarden Chinesen, derzeit zahlenmäßig so klein sind, dass ein Großaufgebot der Polizei die Menschen bereits einschüchtern konnte.

Ob dies das Ende der Proteste bedeutet, ist derzeit ungewiss. Mitte Oktober gab es eine oder einen Mutigen, die oder der als Protest ein Banner an einer Brücke in Peking befestigte, auf dem gefordert wurde, dass der "Diktator und Staatsverräter Xi" aus dem Amt gejagt werde. Dieser Protest wurde behupt und beklatscht. Sechs Wochen darauf folgten tausende Menschen diesem Aufruf, nächste Woche könnten es Hunderttausende sein. Manchmal fangen große Bewegungen klein an. (Alexander Görlach, 2.12.2022)