Amina Handke mit ihren Eltern.

Foto: Klaus Mehner / Ullstein Bild / picturedesk

1.Peter Stephan Jungk: Zündfunken

Er ist der sanfteste und polterndste, der besonnenste und gröbste, der strengste, ernsteste und vergnügteste Mann, den ich kenne, der zuweilen mürrischste und oftmals einfühlsamste Freund, den ich habe. Ich weiß, wovon ich schreibe: Wir kennen einander seit bald fünfundfünfzig Jahren, ich war sechzehn, Peter sechsundzwanzig. Sein Ruhm hatte bereits erste Gipfel erreicht, nach den Stücken Publikumsbeschimpfung und Kaspar, nach der Prosaveröffentlichung Die Hornissen. Er empfing mich in einer dunklen Berliner Mietwohnung, nachdem meine Mutter ihn dazu verurteilt hatte, meine ersten Fingerübungen zu lesen. Wir saßen einander eine knappe Stunde gegenüber.

Worte auf der Waagschale: Peter Stephan Jungk.
Foto: Lillian Birnbaum

Peter schwieg, nachdem ich ihm erzählt hatte, wovon meine Kurztexte ausgelöst worden waren. Ich hatte im kleinen Forum Theater am Kurfürstendamm Kaspar gesehen und war davon wie entzündet. Setzte mich am darauffolgenden Nachmittag, nach der Schule, im Schneidersitz auf mein Bett und hob an, auf einer Reiseschreibmaschine zu dichten. Damals schien Peters Schweigen Programm zu sein – als Besucher hatte man unweigerlich das Gefühl, konstant zu stolpern.

Jeden Satz, den ich äußerte, legte ich zuerst auf mehrere Waagschalen – und trotzdem kam er schief bei ihm an, stieß auf seine beharrliche Stille. Schritt um Schritt entwickelte sich in der Folge dennoch eine Freundschaft, die – weitgehend unbeschadet – bis in die Gegenwart anhält. Ich habe mir soeben einen hervorragenden Steinpilz zubereitet, den Peter im Wald nahe seinem Haus gefunden und mir vor ein paar Abenden in einem chinesischen Restaurant zum Abschied in die Hand gedrückt hat.

Welt ohne WLAN

Er folgt mir immer dorthin nach, wo ich gerade lebe, behaupte ich, nur halb im Scherz: nach Berlin, Salzburg, Paris. Seine Häuser und Gärten zu betreten, am Pariser Stadtrand oder auf dem Land, in Marquemont, öffnet Tore in eine andere Welt. Eine Welt, in der es weder Computer noch iPads oder Smartphones gibt. Keine Satellitenschüssel, um 600 TV-Programme aus aller Welt einzufangen, keinen tischplattengroßen TV-Apparat. Höchstens ein kleines, halb kaputtes Schwarz-Weiß-Gerät.

Peters Welt sind seine mit Bleistift handgeschriebenen Romane, Theaterstücke, Essays, Übersetzungen, Drehbücher, Erzählungen. Sie sind sein Atem, sein Herzrhythmus, sein Blutkreislauf. Ceterum censeo: Peter Handkes Werk wird auch in fernen, unvorstellbaren Zukünften noch gelesen werden, ich zweifle keinen Augenblick daran.

2. Katja Gasser: Handke-Sätze als innere Bojen

Ein Satz von Peter Handke, ein sehr früher aus seinem Text Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, in dem er darüber nachdenkt, was für ihn das Lesen, das Schreiben bedeute, lautet: "So bin ich eigentlich nie von den offiziellen Erziehern ‚erzogen‘ worden, sondern habe mich immer von der Literatur verändern lassen." Dieser Gedanke, dass Literatur verändern, also verwandeln könne, etwas in Bewegung bringen mithin: Dieser Gedanke prägt Handkes Werk von Beginn an – für mich ist dieser Satz eine meiner wichtigsten inneren Bojen seit geraumer Zeit.

Literatur als Ausweg

Böse sei, wer die Möglichkeit der Verwandlung ablehne, hat Peter Handke in einem der Gespräche gesagt, die ich mit ihm führte. Das heißt freilich keineswegs, dass die Literatur eine moralische Besserungsanstalt sei, im Gegenteil: Sie ist, wie es Peter Handke im Nachmittag eines Schriftstellers formuliert: "das freieste aller Länder" und "der Gedanke an dieses der einzige Ausweg aus den täglichen Gemeinheiten und Unterwerfungen hin zu einer stolzen Ebenbürtigkeit". In der Obstdiebin steht: "Solche Verwandlung war das Gegenteil einer Verzerrung, war ein Umschwung ins Höhere und Offene, ein Schwingen weg von all dem Definierten ins Undefinierbare. Sie war nicht abrufbar. Aber sie stand, auch, in meiner Macht. Ich war dazu aufgerufen."

Wie lustvoll hat man sich über Peter Handke lächerlich gemacht, als er rund um die Zuerkennung des Literaturnobelpreises öffentlich äußerte, er komme von Cervantes, von Homer, von Tolstoi – diese Herkunftsbeschreibung Peter Handkes: In ihr kommt die innere Geografie eines Schriftstellers zum Ausdruck, der von Beginn an alles auf die Sprache der Literatur setzte und sich von ihr verwandeln, verändern, prägen ließ. Diese Provenienzbeschreibung: Sie ist nichts anderes als eine Spielart jenes weiter oben zitierten Satzes aus Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Zugleich ist dieser Satz – er komme von Cervantes, von Homer, von Tolstoi – Ausdruck jenes Trotzes, der gemeinsam mit der Denkfigur der Verwandlung für Peter Handkes Werk so bestimmend ist.

Weltbilder zerbrechen

Sowohl die Idee der Verwandlung als auch die des Trotzes opponieren "endgültig scheinenden Weltbildern", von denen im Text Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms die Rede ist – der ganze Satz lautet: "Ich erwarte von der Literatur ein Zerbrechen aller endgültig scheinenden Weltbilder." Damit ist der Wunsch verbunden, so führt es dieser Text aus, "aufmerksam zu werden und aufmerksam zu machen: sensibler, empfindlicher, genauer zu machen und zu werden, damit ich und andere auch genauer und sensibler existieren können, damit ich mich mit anderen besser verständigen und mit ihnen besser umgehen kann."

Dabei wird die Absichtslosigkeit des Erzählens, das Peter Handke im Roman Die morawische Nacht als "Zeichnen von Einzelnem, Dingen wie Menschen" beschreibt, von ihm selbst immer als vehement zu verteidigendes Momentum hervorgehoben: Diese immer wieder aufs Neue ins Spiel gebrachte Absichtslosigkeit zielt auf die radikale Verweigerung einer Einbettung der Literatur in einen Verwertungs- und damit Definitionszusammenhang und sichert damit die Freiheit der Kunst, die letztlich die Freiheit von uns allen gewährleistet.

ORF-Literatur-Redakteurin Katja Gasser sieht in Teilen von Handkes Werk "durchaus religiöse Züge".
Foto: Minitta Kandlbauer

Peter Handkes Schreiben: Es ist für mich, soweit ich es im Blick habe, Ausdruck des Glaubens an die "Unterscheidungskraft" und zugleich Arbeit an derselben – sie, diese Unterscheidungskraft, die Peter Handke dem "Machtwillen" entgegensetzt, wird durch die Sprache der Literatur hervorgebracht, in der Sprache der Literatur geschärft und damit gestärkt.

Das Leben selbst

"Der ewige Friede ist möglich": Dieser Satz aus Über die Dörfer, den Peter Handke ins Herz auch seiner Rede in Stockholm stellte – in diesem Satz kommt auch einer der zentralen Gedanken Theodor W. Adornos zum Vorschein, wonach jeder Mensch in seinem Denken das Wissen besitze, dass alles anders sein könne: gerechter, friedlicher. Aber der Mensch in der Gesellschaft, so Adornos Befund, identifiziere sich mit dem Angreifer, dem Bösen. Die Literatur, folgt man Handke, könne jener Ort sein, an dem die in den Rang der Utopie entsorgte Vorstellung von Welt – eine friedliche, gerechte Welt – als mögliche Realität angerufen werde, und zwar in einem grundlegend existenziellen, nicht eng politischen Sinne.

Der Glaube an die "Anrufbarkeit des Menschen", ein Terminus, der dem Autor Klaus Merz zu verdanken ist, hat bei Handke durchaus religiöse Züge, und zwar in dem Sinne, wie es Ilse Aichinger notierte: "Schreiben kann man wie Beten eigentlich nur, anstatt sich umzubringen. Dann ist es das Leben selbst." Man muss Peter Handke nicht in allem folgen, weder literarisch noch politisch. Seine Texte wollen nicht recht behalten, sie verlangen nicht nach Gefolgschaft. Wohl aber nach Leserinnen. Und Lesern. Und wenn man etwas Glück hat, als Leserin, als Leser, kommt man, durch diese verwandelt in jenen Fluss des Erzählens, der die gebrechliche Einrichtung der Welt im Innersten zusammenhält.

3. Jochen Jung: "Ich war gestern mal wieder bei Peter"

Peter Handke wird demnächst achtzig Jahre alt (ich bin es schon seit Beginn des Jahres), und da er mich erst vor wenigen Wochen besucht hat, weiß ich, wie lebhaft und gegenwärtig er nach wie vor ist.

Rückkehr nach Österreich

Persönlich kennengelernt haben wir einander vor etwa vierzig Jahren, als er beschlossen hatte, seiner ersten Tochter Amina zuliebe nach längeren Aufenthalten in Deutschland nach Österreich zurückzukehren. Ich selbst war damals schon etwa zehn Jahre lang Lektor im Residenz-Verlag und wurde, als Verleger Wolfgang Schaffler sich aus Gesundheitsgründen zurückziehen musste, Leiter des Verlags. In jenen Jahren in Salzburg haben Handke und ich einander oft getroffen, zufällig auf der Straße, häufiger verabredet, meistens in einem Lokal (nicht nur zu zweit), bisweilen auch zu Hause bei mir und meiner Frau.

Ich lernte ihn im üblichen Sinn kennen, war zudem von Anfang an ein begeisterter Leser seiner Werke, deren Ehrgeiz meistens weniger das Erzählen von Geschichten war als das Schildern und Aufmerksam-Machen auf die Details menschlichen Verhaltens und nicht zuletzt das der eigenwilligen und ebenso vertrauten und wie immer wieder überraschenden Natur. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts hat Handke beschlossen, nach Frankreich zu ziehen und sich in einem anziehenden Ort nahe Paris und der Seine ein sehr erfreuliches Haus mit Garten zu erwerben (wo er heute noch wohnt und lebt). Seither habe ich ihn ebenso immer mal wieder (gewiss einmal im Jahr) dort besucht, so wie er auf seinen Reisen ins östliche Europa auch immer mal wieder in Salzburg Station macht und wir einander treffen.

Im Leben und im Lesen

Spätestens seit 2000 hat sich Peter Handke mehr mit täglichen Notizen realer Beobachtungen und dadurch provozierter Wahrnehmungen beschäftigt und damit Bücher entstehen lassen, die in unfassbarer Dichte zahllose konkret kommentierte Weltbilder aneinanderreihen, deren Lektüre einem das Gefühl gibt, nicht nur im Lesen, sondern auch im Leben dabei zu sein.

Im Folgenden erlaube ich mir die reale Abschrift einer Tagebuchnotiz von mir aus dem November 2004:

"Ich war gestern mal wieder, wie beabsichtigt von beiden, bei Peter. Mein ‚Mitbringsel‘ war ein ‚kleiner‘ Regen, der gerade einsetzte, als ich klingelte. Auch Peter wirkte kleiner, als ich erwartet hatte, mit Falten vor allem um den Mund, die deutlicher geworden waren, aber immer noch ist er für mich der einzige Mensch, der ein wirklich gewinnendes Lächeln hat.

Seine Wohnzimmer sind voll mit Büchern, aufgeschlagenen Kunstbüchern, angenehm unaufgeräumt wirkend. Auf dem Tisch viele Bleistifte und vom Waldweg Mitgebrachtes.

Er deckt den Gartentisch unter einem Baum mit seinen Pilzgerichten, acht Sorten Olivenöl (zwei davon "dir zuliebe" aus Griechenland), Brot von gestern, das er geröstet hat, und eine Flasche Sancerre, der wenig später eine zweite folgt. ‚Ich gehe jetzt ein bisschen hin und her‘, sagt Peter und bringt einen Teller nach dem anderen: wilder Reis, Nudeln, Paprika und Karotten, Wurst aus Griffen, Morcheln aus Serbien und Habichtpilz aus dem Wald von Chaville und jede Sorte Kräuter aus den Töpfen im Garten. Und Wasser.

"So war es damals": Verleger Jochen Jung.
Foto: Eva Trifft

Peter kommt und geht und kommt und geht, bis der Tisch wirklich übervoll ist mit all dem, was er im Lauf des Vormittags gekocht oder gerade aufgeschnitten hat. Und zuletzt kommt noch eine Quitte dazu, die er mit Honig gekocht hat (und auch er kann’s nicht vertragen, wenn die Österreicher "Kitte" sagen). Dann reden wir über das kommende Buch von ihm bei uns. Ich zeige ihm meine wenigen Vorschläge zum Streichen von Eintragungen, die er halb-halb entgegennimmt. Wir beschließen die Ausstattung rasch, klären die Laufzeit von zehn Jahren und das Honorar für 5000 Exemplare.

Als ich ihm sage, wie außerordentlich ich finde, dass er das Buch meinem Verlag anvertraut und er doch nicht die geringste Verpflichtung dazu gehabt habe, hält er das für ganz selbstverständlich: Die anderen habe er ja mit mir bei Residenz gemacht und dieses eben bei Jung und Jung. Suhrkamp werde das aushalten.

Am Ende liegen sich zwei ältere Männer in den Armen (sein Körper kommt mir weicher als erwartet vor, ich greife eine kleine Speckstelle über der Hüfte). Was mich wahrlich betrifft: Ich bin weinselig, buchselig und begegnungsselig. Heute Morgen fand ich einen roten Bleistift mit weißem ‚Kopf‘ in meiner Rocktasche, zusammen mit Zweiglein mit trockenen Vogelbeeren. Es war ein Bleistift seiner Tochter Léocadie, und ich kann nur hoffen, ich habe darum gebeten ..."

So war es damals, und wunderbarerweise ist es heute nicht anders, vor allem natürlich, wenn ich, wie immer wieder, eines seiner Bücher in die Hand nehme und mich aufs Willkommenste ernst genommen fühle.

4. Klaus Kastberger: Mein Leben mit Handke

Ich habe fast alles von ihm gelesen. In mehreren Phasen heftiger Hinwendung. Unterbrochen von längeren Zeiten der Abstinenz. Ich habe mich geärgert über ihn. Über seine politischen Irrungen auf dem Balkan. Über die Leute, von denen er sich dort hofieren lässt. Über seinen kindischen Trotz. Die Art und Weise, wie er den Nobelpreis entgegengenommen hat, hat mich traurig gemacht. In dem Livestream, den ich von der Zeremonie sah, kam er mir vor wie ein Parzival im Frack. Ein Mann, der sich selbst die entscheidende Frage nicht stellt, nämlich die nach dem Mitleid.

Handke als eine Offenbarung: Klaus Kastberger.
Foto: Clara Wildberger

Offenbarung "Kaspar"

Als ich sechzehn Jahre alt war, habe ich in der Schulbibliothek des Gymnasiums in Gmunden, in der unsere Klasse Aufräumarbeiten zu verrichten hatte, eine großformatige Suhrkamp-Literaturzeitung mit seinem Stück Kaspar entdeckt. Dieser Text war für mich eine Offenbarung, denn hier funktionierte plötzlich die Frage nicht mehr: Was wollte der Autor uns sagen? Seine frühen Bücher waren mir ein erster literarischer Kontinent. Sie trennten mich von der Welt ab, in der ich damals lebte.

In die Langsame Heimkehr hinein verschwimmt mir eine New-York-Reise, die ich ungefähr zu der Zeit unternommen habe, als er dieses Buch schrieb. Das Programm des Antirealismus, entwickelt in drei Aufsätzen des Sammelbandes Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, definiert für mich bis heute zentrale Möglichkeiten und Qualitäten von Literatur. Mit dem Versuch über den Pilznarren eröffnete sich mir sehr viel später noch einmal ein ganz anderer Zugang zu seinem Werk.

Warten auf den jugoslawischen Einbaum

Dass einer, der von seiner Herkunft nur weite Felder proletarischer Eierschwammerln kennt, an einem einzelnen Steinpilz verrückt werden kann, ist eine zutiefst existenzielle Einsicht. Einmal bin ich mit ihm in seinem damals gerade neu erworbenen Haus im Norden von Paris fast einen Nachmittag lang vor einem kalten Kamin gesessen. Die feuchten Holzscheite wollten nicht brennen, und der echt jugoslawische Einbaum, der angeliefert werden sollte, kam und kam nicht daher. Wir saßen einfach nur da und warteten.

5. Amina Handke: Mein Film

Schon fast mein ganzes Leben begleitet mich die Frage, welchen Einfluss die künstlerische Tätigkeit von Eltern auf Entscheidungen ihrer Kinder nimmt. Warum ist die Auseinandersetzung damit im Rahmen der eigenen künstlerischen Arbeit offenbar ein Tabu (oder riecht zumindest nach unseriöser PR-Masche)? Im Gedanken an die Schultern von Riesen, die das Fundament jeglicher Kultur bilden, ist es durchaus naheliegend, sich als Künstlerin, als Künstler mit Fragen der Weitergabe und Beeinflussung innerhalb von familiären Strukturen zu beschäftigen. Naheliegend war daher auch die Idee, die Arbeit meiner Eltern mit meiner eigenen zu verbinden, indem ich einen Text meines Vaters mit meiner Mutter in der Hauptrolle inszeniere.

Amina Handke als Baby mit ihren Eltern Libgart Schwarz und Peter Handke zu sehen.
Foto: Klaus Mehner / Ullstein Bild / picturedesk

Erste eigene Inszenierungen

Die Wahl auf Kaspar fiel bereits in den 1990er-Jahren, als ich für eine Theaterinszenierung dieses Stücks Ausstattung und Bühnenbild machte. Aus meiner Sicht wäre meine Mutter die ideale Besetzung gewesen – wegen der Komplexität des Texts und weil ich wusste, mit welchem Können und wie viel Ernsthaftigkeit sie solchen Herausforderungen begegnet. Insbesondere aber, weil ich Parallelen zwischen ihr und der Hauptfigur sah: etwa die Kombination aus Hilflosigkeit, Eigensinn und Aberwitz. Wir haben bereits 2015 einen Kurzfilm – Mutter von Mutter – gemeinsam realisiert, an dem wir überhaupt nur zu zweit gearbeitet haben. Eine Erfahrung, auf die wir beide gerne zurückgreifen wollten.

Der Originaltext musste extrem gekürzt werden, um in einem Standardformat Platz zu finden, und ich wollte ihn mit einem ganz unabhängigen filmischen Narrativ verbinden. Daher sollte er in seiner Chronologie belassen werden, um seinen Charakter möglichst zu behalten. Die Reflexion des Mediums durch Verweigerung einer naturalistischen Situation und durch Einsatz von Sprachbausteinen habe ich mit vielen Zitaten und hin und wieder durchbrechenden Film-im-Film-Momenten ins Filmische übertragen.

Die Sprache als Thema

Die eigentliche Hauptrolle in Kaspar spielt die Sprache. Die Titelrolle ist ihr ausgeliefert, spielt aber auch mir ihr. Ihr Vorbild ist die historische Figur Kaspar Hauser. Es könnte aber jede, jeder sein, daher auch eine ältere Frau. Das Persönliche und seine Verbindungen zum Allgemeingültigen sind eine wesentliche Ebene meiner Bearbeitung – neben dem Anliegen, die Theaterreflexion der Vorlage ins Filmische zu übertragen. Die Sprache als Thema steht beispielsweise für Möglichkeiten und Mängel familiärer Gemeinsamkeiten und Missverständnisse, die vielleicht über die Kunst zusammenfinden.

Wir alle sind von der Frage betroffen, wie stark unsere Wahrnehmung und Kommunikation von gesellschaftlichen Konstrukten und Rollenvorstellungen bestimmt sind. Und von der Angst vor Sprach- und Autonomieverlust, die den Ausschluss aus dieser Gesellschaft bedeuten können. Diese Konstrukte äußern sich in Klischees und Normen, denen wir sowohl von außen als auch in Gestalt internalisierter Stimmen ausgesetzt sind. Können wir "innen" und "außen" überhaupt noch unterscheiden? Wer "wir" sind und wer "die Anderen"? Was "real" ist und was "fake"? Worin genau liegt der Unterschied?

6. Xaver Bayer: Der andere PH-Wert

Über die Jahre häufen sich in meiner Wohnung die Bücher an. Wie Schläfer stehen oder liegen sie auf dem Tisch, dem Boden und in Regalen, stets bereit, sich in die Hand nehmen und aufschlagen zu lassen. Beim Blick über die Reihen und Stöße fällt mir allerdings auf, dass das eine oder andere Buch mir indirekt über Peter Handke vermittelt wurde. Denn neben dem Wert seiner Literatur ist bemerkenswert, was er durch seine Übersetzungen sowie Vor- und Nachworte für andere Autoren getan hat.

Neue Entdeckungen

Die Übersetzungen von Peter Handke – ihnen verdanke ich etwa Erstbegegnungen mit den Büchern von Marguerite Duras, Emmanuel Bove, René Char, Francis Ponge und Walker Percy. Aber auch in seinen eigenen Texten, insbesondere in den über Jahrzehnte geführten Journalen, gibt es immer wieder Fingerzeige und Hinweise auf andere Schriftsteller, denen nachzugehen sich überaus lohnt. Andernfalls nämlich entgingen einem beispielsweise die Werke von Ivan Blatný, Nicolas Born, Franz Michael Felder, Srečko Kosovel oder Simone Weil.

Das Bedauerliche und das Tröstliche an der Literatur: Xaver Bayer.
Foto: Sepp Dreissinger

Und sollte einmal der Fall eintreten, dass man nicht weiß, was man als Nächstes lesen soll, empfiehlt sich das 2021 im Wallstein-Verlag erschienene Buch Der Petrarca-Preis. Neben dem Preisstifter Hubert Burda waren die prägenden Mitglieder der Jury dieser von 1975 bis 2014 verliehenen Auszeichnung für literarische Werke die Autoren Peter Hamm, Alfred Kolleritsch, Michael Krüger und eben Peter Handke.

Große Namen und unbekannte Literaten

Unter den Preisträgern finden sich so große Namen wie Herbert Achternbusch, Ilse Aichinger, Ludwig Hohl, Philippe Jaccottet oder Friederike Mayröcker. Und ohne den Petrarca-Preis wäre ich möglicherweise bis heute nicht auf mir vorher unbekannte Literaten wie Zbigniew Herbert, Franz Mon, Les Murray oder Tomas Tranströmer aufmerksam geworden.

Das Bedauerliche im Leben eines Lesers ist ja, dass man nie alle lesenswerten Bücher wird lesen können. Das Tröstliche hingegen, dass einem die Lektüre in all den Jahren niemals ausgehen kann. (Peter Stephan Jungk, Katja Gasser, Jochen Jung, Klaus Kastberger, Amina Handke, Xaver Bayer, 6.12.2022)