"Das Alleinsein tut mir gut": Peter Handke in seinem Haus in Chaville in der Nähe von Paris. Am 6. Dezember wird der Autor 80.

Foto: Camera Press / Laura Stevens

Den Parisern ist die Gegend, die Handke in seiner literarischen Fantasie "Niemandsbucht" getauft hat, nicht sehr gut bekannt. Viele fahren da durch, zum Mountainbiken im Bois de Meudon oder nach Versailles, das ist mit seinem Schloss immer einen Ausflug wert. Auf die Idee, in Chaville aus dem Vorortezug zu steigen, kommt man nicht. Als 1999 "Mein Jahr in der Niemandsbucht" auf Französisch erschien, sah sich der Rezensent von "Libération" bemüßigt, dem Leser zu erklären: "Fünf Minuten Vogelflug vom Eiffelturm entfernt, ist diese scheinbar eigenschafts- und geschichtslose, verborgene und gleichsam geheime Gegend der Seine-Höhen dennoch so einzigartig, dass sie dem, der sie durchstreift, jedes 'Fernweh' und 'jede Art Heimweh' vertreibt."

Letzte Begegnung

Bei meiner letzten Begegnung mit Peter Handke vor zehn Jahren war geplant, sich in Versailles zu treffen und dort in einem Restaurant zu Abend zu essen. Ich war in Paris umherspaziert und wollte am Bahnhof Javel einen RER-Zug nehmen, doch der Verkehr war unterbrochen, er würde erst Stunden später wieder aufgenommen werden, und ein Bus nach Versailles war in der Gegend nicht zu finden.

Es war schon spät, ein schöner Abend mit leuchtenden Streifen am Himmel, und ich hatte das Gefühl, Versailles und mit dem Ort auch Peter Handke seien von Paris und von mir, wenn nicht für alle Zeiten, so doch für den Rest des Tages abgeschnitten. Ein Handy besaß ich nicht, und selbst wenn, es hätte nichts geholfen, Handke war sicher schon auf dem Weg. Ich resignierte und trabte nach Hause, auf der Avenue Émile Zola und dann am Boulevard Garibaldi, in Richtung Montparnasse, wo mir verreiste Freunde für ein paar Tage ihre Wohnung zur Verfügung gestellt hatten.

Von dort rief ich Handke auf seinem Handy an, und das war für lange Zeit unsere letzte Begegnung, die nicht stattgefunden hatte und doch stattgefunden hatte, weil das Telefonat etwas Spiritistisches hatte und ich Handke leib-seelisch vor mir sah.

Lange Pausen

Ich stand im Wohnzimmer im vierten Stock am Fenster, schaute hinunter auf den Innenhof, in die zum Teil erleuchteten Wohnungen, die allesamt keine Gardinen hatten, sah zu, wie im zweiten Stock, schräg unter mir, ein Mann in seiner Wohnung hin und her ging, hier etwas holte, sich setzte, dann wieder aufstand, nachdachte, hin und her ging, indes Handke sich meldete und ein langsames Gespräch mit einigen Pausen begann. Er fragte mich, wieso ich kein Taxi genommen hätte. Auf diese Idee war ich nicht gekommen, eine Taxirechnung von 100 Euro oder mehr kann ich mir normalerweise nicht leisten.

Am Seine-Ufer bei der Mirabeau-Brücke hatte mir meine Fantasie vorgespielt, dass überhaupt alle Verbindungen gekappt waren, auch Wege für Taxis unpassierbar waren. Wenige Menschen auf den Straßen, es blieb ihnen nichts übrig, als nach Hause zu gehen. Ich weiß nicht, warum ich Handke in dieser Situation fragte, wie es ihm gehe. Um seinen Zustand zu benennen, gebrauchte er das Wort "Herzfieber", und ich konnte es mitempfinden, dieses Herzfieber, es war mir vertraut. Wieder einmal das passende Wort, dachte ich, fast mit einem Anflug von Neid.

Leopold Federmair hat bereits zwei Bücher über Peter Handke veröffentlicht.
Foto: Mayuko Kiyamura

Treffpunkt Versailles

Gegen Ende des Gesprächs, das, wenn ich es jetzt bedenke, überhaupt mehr aus Pausen bestand, sagte er: "Soll ich Ihnen etwas gestehen? Ich bin eigentlich ganz froh, dass Sie nicht gekommen sind. Das Alleinsein tut mir gut." Das machte mich einerseits traurig, aber ich verstand sofort, was er meinte. Wir schwiegen noch eine Weile. Dann verabschiedeten wir uns. Ich glaube, ich – oder er? – sagte: "Bis zum nächsten Mal." Zwei Tage später flog ich zurück nach Japan.

Nächstes Mal, das war ein Jahrzehnt später. Während der letzten drei Jahre war ich wegen der Corona-Pandemie nicht außer Landes, ja kaum aus der Region Hiroshima herausgekommen. Als ich mit Handke am Telefon, wieder in derselben Wohnung am selben Fenster stehend, einen Treffpunkt vereinbarte, schlug er Versailles vor, als wüsste er, dass ich mit mir selbst eine Rechnung offen hatte. Und wieder meinte er, ich könne in Javel in den Zug steigen.

Wahrheiten

Der Weg dorthin war viel weiter, als ich ihn in Erinnerung hatte; oder besser, meine Empfindung war anders, denn die paar Kilometer strengten mich an. In den zehn Jahren hat sich nicht viel verändert, außer dass ich meine Kräfte verloren habe. Die Avenue Zola wurde mir endlos lang. In der Nähe der Schule, die den Namen des Romanciers trägt, machte ich eine Verschnaufpause und las auf dem Gedenkstein vor meiner Nase den ersten Satz, ein Zitat: "La vérité est en marche, rien ne peut plus l’arrêter." Die Wahrheit marschiert, nichts kann sie aufhalten. Denkste, dachte ich. Die Wahrheit steht mehr denn je auf tönernen Füßen.

Chaville liegt zwischen Versailles und Paris, ebenso das Nachbarstädtchen Viroflay. Viroflay ist etwas eleganter, es liegt näher beim Schloss, während Chaville noch nichts von der Weltstadt mit ihren glanzvollen und schlechteren Vierteln hat. Wenn man die Strecken teilt, nähert man sich der Mitte – infinitesimal. Die Mitte ist überall, aber nur virtuell. Wo der Vorortezug Paris verlässt, bleibt das verglaste Microsoft-Gebäude rechter Hand liegen. An der Endstation dieser Linie, in Saint-Quentin-en-Yvelines, sieht man hässliche Schul- und Verwaltungsgebäude einer regionalen Hauptstadt.

In Viroflay wiederum sind wir auf der Rückfahrt ausgestiegen, weil ich in Versailles keine Fahrkarte gekauft hatte. Eine Handbreit hinter ihm schlüpfte ich durch die Barriere, während er seine Dauerkarte zückte. Der letzte Zug nach Paris ging erst später, und so spazierten wir durch die menschenleeren nächtlichen Straßen von Viroflay, an der Kirche mit den erleuchteten farbigen Fenstern und an kleinen Geschäften vorbei, schließlich in eine Sackgasse, wo früher das Bordell war – es sieht heute aus wie eine Kulisse, dahinter das Niemandsland im Niemandsland, die vier Spielkartenfarben auf eine fenstergroße Wandfläche gemalt und mit den Jahren halb verblichen.

Abendessen mit Geständnis

Beim Abendessen im Restaurant in Versailles, das ich diesmal rechtzeitig erreicht hatte – ich saß sogar ziemlich lange in dem Café, das als Treffpunkt vereinbart war, schaute zu der hohen, oben fast geschlossenen Platanenallee hinüber und auf einen dunkelhäutigen, wuschelköpfigen Obdachlosen, der mit sich selbst sprechend vor der Terrasse auf und ab ging –, gestand ich Handke, dass ich ein zweites Buch über ihn geschrieben hätte und demnächst zu veröffentlichen gedächte, und auf sein Gesicht legte sich Enttäuschung, momentweise sogar Entsetzen.

Wozu ich das machen würde, war seine Frage, und später, als ich mich mühsam zu rechtfertigen versuchte, bat er mich, wenigstens nichts über ihn als Person zu schreiben, ihn vor allem nicht zu beschreiben. (Er hat sich selbst beschrieben, aber da ist er eine fiktive Gestalt am Ende von "Meine Reise ins andere Land", das Spiegelbild als Menschenbild, in dem sich jeder erkennen könnte, niemand ebenso gut wie jemand.) Und er warf mir vor, was er schon vor zehn Jahren getan hatte, dass und wie ich einen anderen Autor beschrieben hatte, nämlich recht konkret in seinem Aussehen, seiner Körperhaltung. Handke hat das in seinen Werken immer vermieden, der Leser stellt sich die Figuren auf seine Art vor, der Autor lässt ihm diese Freiheit.

Leopold Federmair, "Elfenbeinturm, Niemandsland, Luftschlösser. Streifzüge im anderen Land. Essays zu Peter Handke". € 20,– / 280 Seiten. Klever-Verlag, 2022.
Klever

Wer ist Herr F.?

Was Handke bei unserem Treffen erzählt hat? Tatsächlich war ich der Erzählende, denn Handke ist ein neugieriger Mensch und ein guter Zuhörer. Während meiner letzten Handke-Lektüren hatte ich mir ein paar Notizen gemacht, davon hätte ich ihm eine Liste von Fragen vorlegen können und tat es wieder einmal nicht. Außer einer, um ihm ein Beispiel meiner Leserneugier zu geben. Er beantwortete die Frage gewissenhaft, wobei jedoch klar war, dass die Antwort keine besondere Aussagekraft hinsichtlich des Werks besaß.

In "Das Gewicht der Welt", 1977 erschienen, kommen häufig ein Herr F. und wenigstens ebenso oft dessen Frau vor. Sie sind keine engen Freunde des Autors, kümmern sich aber manchmal um dessen kleine Tochter, und als Handke mit ihr nach Südfrankreich in die Ferien fährt, sind auch die F.s in der Nähe. Hausgehilfen? Hat Handke sie bezahlt?

Nein, Herr F. ist jener Angestellte der österreichischen Botschaft, den Handke in "Die Stunde der wahren Empfindung" zur Hauptfigur gemacht hat, im Prozess der Fiktionalisierung freilich einen ganz anderen Charakter schaffend. Nach einer Lesung aus meinem ersten Handke-Buch hatte sich der Mann bei mir vorgestellt, er sei jener Gregor Keuschnig. Ein angenehmer, zurückhaltender Zeitgenosse, als Botschaftsangestellter mittlerweile pensioniert, dessen Lebenswirklichkeit mit der literarischen Figur wohl nur oberflächlich zu tun hatte. Auf solche Weise, das war mir schon früher klar geworden, macht Handke wenigstens zeitweise alles und jeden zu Literatur, indem er es in Betrachtung nimmt und fiktional-wesentlich verändert.

Selbstdarstellung und Scham

Erst jetzt, wo ich dies schreibe, fällt mir auf: Herr F., so bin ich ebenfalls genannt worden. Die Figur könnte ich sein. Ich bin – zeitweise –, was ich lese. Vor Jahren habe ich einen Essay geschrieben, eine Art Selbstverständniserklärung, in der ich die Bewegung beim Schreiben und allein schon beim Vorsatz des Schreibens auszudrücken versuche, eine Bewegung zwischen zwei Polen, denen ich die Namen "Exhibitionismus" und "Scham" zugeordnet habe.

Auf der einen Seite bin ich davon überzeugt, dass Autoren selbst dann, wenn sie niemals "ich" sagen, etwas von sich öffentlich zeigen wollen; auf der anderen Seite wirkt gegen diese Selbstdarstellung die Scham, die bei Autoren unter Umständen besonders stark sein kann. Dieses Gegensatzpaar erinnert mich selbst ein wenig an das, was Georg Lukács als Dialektik von "Aufdecken" und "Zudecken" bezeichnete, wobei er freilich nur gesellschaftliche Zusammenhänge im Blick hatte. Ich denke, diese Dialektik ist existenziell und betrifft den Einzelnen und sein Innenleben.

Versuchen und erzählen

Handkes Forderung an mich war mir einsichtig. Es soll nicht um den Menschen gehen, sondern um sein Werk – in dem sich der Mensch nolens volens verbirgt, sodass eine Hermeneutik, wie ich sie verstehe, doch nie vollständig ohne eine Art des Aufdeckens auskommen kann, denn schließlich versuche ich zu verstehen, warum und wie einer das alles gemacht hat, wie er dazu gekommen ist, sein "Gesamtwerk" zu schaffen. Und was ich verstehe, versuche ich zu erzählen.

Als wir von Biografien und Interviewbüchern sprachen, machte ich ihn darauf aufmerksam, dass er bisher doch zu vielen solcher Bücher den entscheidenden Anteil beigetragen hatte und auch biografisches Material zur Verfügung gestellt habe. "Ja, das war vor zehn Jahren", war seine Antwort. Kann sein, dass seine Haltung sich geändert hat – obwohl er im Wesentlichen derselbe ist. Kann sein, dass die Scham und das Bedürfnis, niemand zu sein, infolge der durch den Nobelpreis noch einmal gewachsenen Publicity, die ich an den Reaktionen der Oberkellner ablesen konnte, gestiegen sind. Sodass für uns die Schlussfolgerung naheliegt, uns mehr um das Werk zu kümmern als um die Privatperson, das heißt um den, wie mir bei unserer letzten Begegnung schien, immer noch starken, zähen und unzerstörbaren Peter Handke.

Es hat sich so ergeben, dass ich die Reise nach Versailles zehn Jahre nach meinem ersten, gescheiterten Versuch doch noch angetreten habe. Stunden vor der Verabredung, für den Fall, dass die Strecke abends wieder unterbrochen wäre. Handke erinnerte sich offenbar nicht an mein damaliges Versäumnis, und ich war glücklich, eine Schande, die nur mich und meine eigene Scham betrifft – oder sagt man "Scharte"? –, auswetzen zu können. (Leopold Federmair, 5.12.2022)