Eine Historie Russlands aus der Feder eines Engländers.

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9000 Kilometer. Und 1200 Jahre. Ausgreifend die geografische Längenausdehnung Russlands, des größten Landes der Welt. Und ausgreifend dessen Historie, die Orlando Figes auf 400 Textseiten prononciert umreißt.

Mehr als 1200 Jahre erzählt er. Von der Kiewer Rus im neunten Jahrhundert und Warägern, Wikingern, über die dreihundertjährige Herrschaft der Mongolen von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zum sogenannten Moskauer Reich. Von der Inthronisation der Romanows 1613 über Absolutismus, den Aufbruch unter Peter dem Großen, Aufklärung und Reformen zu imperialer Machtentfaltung. Dann, im 19. Jahrhundert, geht es ums Widerspiel zwischen nach Westen ausgerichteter Moderne und antikosmopolitischem Panslawismus, um den Kampf zwischen Liberalen, orthodoxen Erzreaktionären und Radikalen. Schließlich die Verfallszeit unter dem vom Durchsetzungswillen bis zum Intellekt fast schwächsten Romanow, Nikolaus II.

Lebendige Revolution

Ein Drittel der Darstellung ist dem 20. und dem 21. Jahrhundert gewidmet. Das Revolutionskapitel ist äußerst lebendig – und handelt auch von verpassten Chancen. Lenin schildert Figes überzeugend als krassen Menschenverächter und direkten Nachfolger der extremistischen Jakobiner der Französischen Revolution. Stalins Psyche auszuleuchten fällt ihm deutlich leichter. Weil der Georgier seine derbe Brutalität zur pathologischen Paranoia ausufern ließ.

Vor allem aber handelt, liest man programmatisch im Auftakt, dieses Buch von Mythen der russischen Geschichte, Mythologemen und den Interpretationen der Geschichte zu Fromm und Nutzen der autokratischen Gegenwart unter Putin.

Russische Medienpolitik

Figes beugt sich besonders über einen Punkt: übers Benutzen von Geschichte, übers Umschreiben und Umfunktionieren für tagesaktuelle Bedürfnisse, Begründungen und Scheinargumentationen. Die "zeitgenössische russische Politik", meint Figes richtig, "wird allzu häufig ohne Kenntnis der Vergangenheit des Landes analysiert. Um zu begreifen, was Putin wirklich für Russland und die allgemeine Welt bedeutet, müssen wir verstehen, in welchem Verhältnis seine Herrschaft zu den langfristigen Mustern der russischen Geschichte steht und was es für Russen heißt, wenn er an jene traditionellen Wertvorstellungen appelliert."

Diese sozio-politanthropologischen Mentalitätspunkte, von Autoritätshörigkeit bis zu mangelnder Bildung und der Fabrikation eines angeblich Russlandverachtenden Europas, zu beleuchten, das macht er ausnehmend gut.

Orlando Figes, "Eine Geschichte Russlands". Übersetzt von Norbert Juraschitz. € 28,80 / 448 Seiten. Klett-Cotta, Stuttgart 2022.
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Was auf Putin folgt

Klug und "realpolitisch" fällt das Finale aus, die Jahre unter Wladimir Putin, Kreatur, Produkt wie Repräsentant zynisch plutokratischer FSB-Mediokrität. Figes’ Aussicht fällt wenig optimistisch aus. Was auf Putin, den heute 71-Jährigen, folgen könnte? Kein Systemwechsel. Kein Regimewechsel. Nur ein anderes Gesicht. Zu sehr verfestigt sei, so Figes’ Befund, der militärisch-geheimdienstliche Komplex. Und nur in zartem Schattenwurf das vorhanden, was für eine liberale demokratische Zivilgesellschaft vonnöten sei. Der Ukraine-Krieg werfe, so seine Einschätzung, Russland ökonomisch um 50 Jahre zurück. Chinas Lakai werde es am Ende sein.

Der in Cambridge ausgebildete Figes, der bis zum Herbst 2022 fast ein Vierteljahrhundert lang Geschichte am Birkbeck College der University of London lehrte und seit seiner Frühemeritierung überwiegend in Umbrien lebt, versteht es, beeindruckend leicht zu schreiben, pointiert Vorgänge zu raffen, Entwicklungen kondensiert darzustellen, Porträts zu zeichnen. Dabei gelingt es ihm sogar, hier geistreiche, dort pittoreske Details einzuflechten. Das ist kunstvoll. Das ist bemerkenswerte Geschichtsschreibung.

Diese Historie Russlands aus der Feder des Engländers, der über den Krimkrieg ein Buch veröffentlichte wie über die Epoche der russischen Revolution zwischen 1891 und 1924 und 2019 mit Die Europäer ein feines, um den russischen Autor Ivan Turgenev rotierendes Kaleidoskop des 19. Jahrhunderts publizierte, ist ein überaus gelungener, instruktiver Einstieg ins Thema, eine so prägnante wie intellektuell raffinierte und ausnehmend gut geschriebene Einführung. Vielleicht hat Figes, dem in früheren Büchern hie und da der höchste Grad prononcierter Wissenschaftsakribie abging, mit einer solchen Form des populären Totalpanoramas das gewitzte, ihm geschmeidig passende Genre gefunden. (Alexander Kluy, 3.12.2022)