Belorusets hält den Kriegsalltag auch fotografisch fest.

Foto: Olga Tsybulska

Als Yevgenia Belorusets am 24. Februar damit beginnt, Aufzeichnungen über den Krieg und den veränderten Lebensalltag in ihrer Heimat, der Ukraine, zu führen, geht sie noch von einem Kurzprojekt aus, in der Überzeugung, der Krieg werde nur wenige Tage dauern. Später bestätigt sie: "Mein Glauben an die Unmöglichkeit eines so sinnlosen Krieges war stark." Nun sei jeder Tag "wie eine gefährliche Krankheit, von der man dringend geheilt werden muss". Doch die Frage nach dem Kriegsende ist bald nur noch eine rhetorische.

Belorusets, die als Schriftstellerin und Fotografin abwechselnd in Kyjiw und Berlin lebt, hat ihre Tagebücher auf Deutsch geschrieben, zum Teil erschienen sie im Spiegel und im deutschen Rundfunk. In der Buchform beginnen die Aufzeichnungen mit einer Rückschau auf 2014. Damals, als Russland die Krim annektierte und im Donbass Tatsachen schuf, befand sich die Autorin in Berlin und musste feststellen, dass niemand so richtig ernst nahm, was im Osten der Ukraine geschah. Aus der Ferne war alles "verschwommen", das Schlachtfeld nicht vorstellbar. Aber nun, da es für die Menschen in der Ukraine ums nackte Überleben geht, wird dieser Krieg als brutaler Versuch einer Unterwerfung und Kolonisierung wahrgenommen, eine Wirklichkeit, die alle Maßstäbe verrückt. "Nichts mehr war wichtig", schreibt Belorusets, "meine Biografie verkürzte sich auf die fragile Behauptung meiner Existenz."

Wahnsinn der Vernichtung

Am zweiten Tag des Krieges kann man in ihren Aufzeichnungen den Satz lesen: "Glück existiert nicht mehr." So heißt auf Deutsch die kleine Stadt Schchastje in der Oblast Luhansk, die von den russischen Angreifern innerhalb weniger Stunden zu achtzig Prozent zerstört wurde. Als die Bewohner sich endlich ins Freie wagten, wurden sie gezielt beschossen.

Yevgenia Belorusets, "Anfang des Krieges. Tagebücher aus Kyjiw". € 23,50 / 192 Seiten. Matthes & Seitz, Berlin 2022.
Mattes & Seitz Berlin

Glück ist nur beispielhaft für all die Orte, die die russische Militärmacht ins Visier nimmt, beispielhaft für den Wahnsinn der Vernichtung. "Diese Verbrechen", schreibt Belorusets, "passieren vor den Augen der ganzen Welt." Und: "Manchmal ist es in diesen Tagen schwer, das Morgen zu greifen." Dennoch versucht die Autorin, sich einen Rest von Alltäglichkeit zu bewahren: etwa zwischen den Raketenalarmen und Angriffen spazieren zu gehen, die Frühlingssonne zu genießen, ja irgendwo in der Stadt wieder einen Cappuccino zu trinken, so unwirklich das nun erscheint. Denn zur selben Zeit kommen Gräuelnachrichten aus den besetzten Gebieten, Familien würden aus ihren Häusern entführt, ganze Dörfer und Städte von den russischen Besatzern "zum Schweigen gebracht". Anschaulicher kann man Krieg wohl nicht definieren, wenn "Häuser, Menschenleben und Erinnerungen in einem riesigen Feuer verschwinden".

Ein Mittel der Erinnerung ist für Belorusets das Fotografieren. Dabei rückt sie nicht die Zerstörungen ins Bild, sondern den Alltag der Menschen, fängt mit der Kamera Straßenszenen und Gesichter ein, die bedeuten, das Leben müsse irgendwie weitergehen. Am 19. März, "in den letzten Sonnenstrahlen des Abends", begegnet sie einer Freundin, die zwei Blumensträuße nach Hause trägt, ein Blumenladen in der Stadt, erfährt sie, habe an diesem Tag Blumen verschenkt. Dieselbe Freundin zeigt auf ihrem Handy ein Video aus ihrer Heimatstadt im Nordosten der Ukraine: Man sieht Ruinen, schwarze Mauerreste, verbrannte Erde. "Das war das Zentrum unserer Stadt", erklärt die Freundin, "das waren das Kunst- und Kulturhaus, hier war eine Schule, die ich besucht habe."

Unerhörte Wirkkraft

Anfang des Krieges ist mehr als nur ein Protokoll der Zerstörungen, nämlich die Erzählung vom Leben der Menschen in Zeiten des Krieges. Dieses so verletzbare Leben, das auch poetische Augenblicke bereithält, fließt wie eine zweite Wirklichkeit durchs Geschehen, und manchmal stoßen die Realitäten aneinander. Einmal wird die Autorin auf der Straße von einem älteren Ehepaar "festgenommen", das die Fotografierende für eine russische Spionin hält. "Sie brachten mich zu einem russischen Kontrollposten in der Hoffnung, dass ich entwaffnet werden würde. Dabei wollte ich doch nur ein hoffnungsvolles Foto in der Stadt machen."

Eine Fotostrecke im Buch dokumentiert im Kontext der Aufzeichnungen die ersten Wochen des Krieges. Text und Bilder erzeugen eine unerhörte Wirkkraft. Dass Belorusets mit dem Blick der Fotografin zu erzählen weiß, hat sie mit ihrem ersten Buch Glückliche Fälle 2019 eindrücklich bewiesen. Sie setzt auf die Sprache der Bilder und formt mit ihnen eine epische Textur, die einen poetischen Gegenentwurf zur Wirklichkeit des Krieges bildet. (Gerhard Zeillinger, 6.12.2022)