So wie auf diesem Rendering könnte die Wiener Kirchengasse aussehen – wenn man nur wollte.

Foto: Mathias Bank / Smartvoll Architekten

Asphalt und Beton müssten weniger werden, die Grünflächen dafür mehr – so funktioniert Entsiegelung. Eine Handlungsanleitung anhand der Wiener Kirchengasse. Leider nur eine Utopie. Oder doch nicht?

1. Der grüne Traum

Eine Klatschmohnwiese wie bei den Fernsehbienen Willi und Maja, damals in den Siebzigern, mit allerlei buntem Gestrüpp und Geblüm, mit Viecherln und Insekten, ja sogar ein Eichhörnchen hat den Weg hierher gefunden und hält auf einer der aufgebrochenen Asphaltschollen nun Ausschau nach Nussigem. "Wir träumen von einem richtigen Urban Jungle", sagen Christian Kircher, Philipp Buxbaum und Viola Habicher, die in der Kirchengasse 23, siebter Wiener Gemeindebezirk, aktuell eine Beton- und Asphaltwüste, das Büro Smartvoll Architekten leiten. "Gerade in der gründerzeitlichen Stadt, die nur wenig Grün zu bieten hat, wäre so eine Entsiegelung ein Beitrag für mehr Lebensqualität und ein besseres, erträglicheres Stadtklima." Alles nur ein Traum? "Es reicht ein Blick auf die U-Bahn-Baustelle U2 und U5. Wenn der Wille da ist, geht alles."

2. Die graue Wahrheit

Österreich ist Versiegelungseuropameister. Pro Minute werden 80 Quadratmeter Boden versiegelt, das sind 11,5 Hektar pro Tag, 42 Quadratkilometer pro Jahr. Mit anderen Worten: Jahr für Jahr wird in Österreich Grünland in der Größe von Eisenstadt zubetoniert und mit Asphalt zugegossen. Die dringend benötigte Produktion von Wohnraum in städtischen Ballungsräumen lässt die Entwicklung nicht abflachen. Vom politischen Ziel, den Flächenverbrauch bis 2030 auf 2,5 Hektar pro Tag zu reduzieren, sind wir Lichtjahre entfernt. Was tun? In Anlehnung an das Wiener Baumschutzgesetz, demnach für jeden gefällten Baum ein Ersatzbaum zu pflanzen ist, könnte man einen Eins-zu-eins-Tausch für Versiegelung und Entsiegelung gesetzlich verankern. In Anbetracht der dramatisch zunehmenden Klimakrise fragt man sich, warum diese Diskussion nicht schon längst geführt wird.

3. Die Standortsuche

In mikroklimatischer Hinsicht ist jede einzelne Straße für eine Entsiegelung geeignet. Durch den Wegfall von massiven Baustoffen, durch die Verdunstungskälte der Pflanzen (Evapotranspiration) und nicht zuletzt durch die Verschattung mittels Bäumen würde selbst das kleinste Gasserl von einem Asphaltabbruch profitieren. In stadtklimatischer Hinsicht eignen sich für eine Entsiegelung vor allem größere, zusammenhängende Grünbänder, die im Idealfall in die heißesten Urban-Heat-Islands hineingeschlagen werden – im Falle von Wien also im Bereich der Innenbezirke und entlang des Westgürtels. Einen noch höheren Effekt erzielt man durch die Entsiegelung von West-Ost-Kaltluftschneisen: Auf diese Weise könnte die frische Wienerwald-Luft aus dem Westen durch begrünte Kanäle noch schneller, noch kühler, noch effizienter bis in die Innenstadt vordringen.

4. Das Entsiegelungs-Einmaleins

Ein klassischer Straßenaufbau misst rund 70 Zentimeter. In der historischen Stadt jedoch sind die historisch gewachsenen Aufbauten oft bis zu zwei, drei Meter dick. Hinzu kommen zahlreiche Einbauten für Strom, Telefon, Glasfaser, Gas, Wasser, Abwasser und Fernwärme, die im Falle einer Entsiegelung verlegt oder zumindest geschützt werden müssten. Anbieten würde sich dafür eine Bündelung aller Installationsleitungen in sogenannten Kollektorgängen, wie sie in einigen Städten weltweit bereits Standard sind. Nachdem der unter einer Versiegelung befindliche Boden biologisch und chemisch betrachtet tot ist, müsste der Bodenaufbau komplett neu komponiert werden. Denn: Nur ein gesunder, lebendiger Boden trägt zur Klimaregulierung bei und ist in der Lage, mit einer biodiversen Fauna und Flora Wärme zu puffern und Wasser zu speichern.

5. Die technischen Gefahren

Technisch betrachtet ist die Stadt – mit Ausnahme von grünen Plätzen und Parkanlagen – ein versiegeltes Bauwerk, das über ein komplexes, künstlich angelegtes Kanalsystem entwässert wird. Reißt man die Versiegelung an einer x-beliebigen Stelle auf, ist es, als würde man in der Badewanne den Stöpsel ziehen. Gar nicht gut. Damit die entsiegelte Fläche also nicht unkontrollierbare Regenwassermengen abbekommt, müssen Topografie und Beschaffenheit der angrenzenden Häuser und Dachflächen sowie die Retentions- und Entwässerungskonzepte genau überprüft werden. Die angrenzenden Hausfassaden und Kellerwände müssten – wie bei einem Einfamilienhaus auf der grünen Wiese – mit Abdichtungen und Drainagen ertüchtigt werden.

6. Die juristische Hürden

Die größte Herausforderung jedoch liegt nicht in der Bautechnik, sondern in den hochkomplexen magistratischen Strukturen: Um einen so starken Eingriff ins Straßensystem zu ermöglichen, müssten nach Auskunft von Experten rund 20 Wiener Magistratsabteilungen ihr Einverständnis geben – darunter etwa die Abteilungen für Stadtteilplanung und Flächennutzung (MA 21), Straßenverwaltung und Straßenbau (MA 28), Baupolizei (MA 37), Wiener Stadtgärten (MA 42) sowie Bau-, Energie-, Eisenbahn- und Luftfahrtrecht (MA 64). Hinzu kommen die Okays von weiteren Stellen wie etwa Wiener Netzen, Wien Kanal und Feuerwehr, vom jeweils zuständigen Bezirk sowie vom Wiener Planungsdirektor Thomas Madreiter, vom Stadtbaudirektor Bernhard Jarolim sowie von der amtierenden Planungsstadträtin Ulli Sima.

7. Die Moral von der Geschicht

Die Entsiegelung bereits versiegelter Verkehrsflächen ist technisch und juristisch möglich – wenn auch mit hohem baulichem Aufwand und einem Höllenritt durch die Magistrate. Zudem muss der tote, kontaminierte Boden – wie beim Rudolf-Bednar-Park (Nordbahnhof) oder Helmut-Zilk-Park (Sonnwendviertel) – abtransportiert und durch neues, gesundes Substrat ersetzt werden. Eine günstigere Alternative ist die punktuelle Begrünung und Bepflanzung mit Schwammstadtbäumen oder kompakten Street-Trees, die auf einer Fläche von nur einem Pkw-Stellplatz ihr Auslangen finden. Wasserreserven sind genug vorhanden. Aktuell versickern in Wien lediglich sieben Prozent des Regenwassers im Untergrund, 93 Prozent müssen über Kanäle abgeleitet werden. Das ist teuer, aufwendig und stadtklimatisch unvernünftig. Fakt ist: Die zubetonierte Stadt in ihrer heutigen Form ist nicht zukunftsfähig. Wir müssen unsere Zukunftsbilder neu malen. (Wojciech Czaja, 4.12.2022)